Collage von

Jonathan Schorsch, Portrait mit Zeichnung von Marva Gradwohl

JMS 1820, Ludwig Schwerin, Lithografie

«Juden haben schon immer auf dem Land gelebt.»

Jonathan Schorsch über jüdischen Umweltschutz

Jona­than Schorsch ist Pro­fes­sor für jüdi­sche Reli­gi­ons- und Geis­tes­ge­schich­te an der Uni­ver­si­tät Pots­dam und Lei­ter des Green Sab­bath Pro­ject. Gemein­sam mit Dr. Efrat Gilad in Bern und Dr. Net­ta Cohen in Oxford eta­bliert er die jüdi­sche Umwelt­ge­schich­te als neu­es Fach­ge­biet. Muse­ums­di­rek­to­rin Nao­mi Lubrich sprach mit ihm über jüdi­sche Zurück-zur-Natur-Bewe­gun­gen, länd­li­che Folk­lo­re und die kos­mi­schen Fol­gen des ein­fa­chen Lebens.

Nao­mi Lubrich: Jona­than, was hat Sie dazu gebracht, sich mit jüdi­schem Umwelt­schutz zu beschäftigen? 

Jona­than Schorsch: Ich war schon immer ein umwelt­ori­en­tier­ter Mensch, aber ich habe erst vor zehn Jah­ren, ca. 2013, begon­nen, mich pro­fes­sio­nell mit Umwelt­schutz zu beschäf­ti­gen. Die Grün­de dafür waren zum einen mein per­sön­li­cher Lebens­weg – ich habe in der Bronx, Ber­ke­ley, Jeru­sa­lem und Ber­lin in unter­schied­li­cher Nähe zur Natur gelebt – und zum ande­ren die sich welt­weit ver­schlech­tern­den Nach­rich­ten. Es ist ein Feld, das mir sehr am Her­zen liegt und das noch nicht sehr bekannt ist.

NL: Was kann eine jüdi­sche Per­spek­ti­ve zu Umwelt­stu­di­en beitragen?

JS: Das Juden­tum hat ritu­el­le Prak­ti­ken für ein nach­hal­ti­ges Leben ent­wi­ckelt. Die jüdi­schen Vor­stel­lun­gen von Mitz­wot, guten Taten, über­schnei­den sich erheb­lich mit dem öko­lo­gi­schen Den­ken. Bei bei­den geht es dar­um, ethisch zu leben, unse­re Hand­lun­gen zu regu­lie­ren, unser Essen zu kon­trol­lie­ren und unser per­sön­li­ches Ver­hal­ten zu steu­ern. Bei­de haben auch ein gemein­schaft­li­ches Motiv, die aus Richt­li­ni­en und Geset­zen für die Gesell­schaft als Gan­zes besteht. Das kab­ba­lis­ti­sche Juden­tum bringt einen drit­ten Aspekt ein: Es berück­sich­tigt unse­ren per­sön­li­chen Ein­fluss auf unse­re Welt, die kos­mi­schen Kon­se­quen­zen unse­res Handelns.

NL: Wie weit lässt sich der jüdi­sche Umwelt­ge­dan­ke zurückverfolgen? 

JS: Min­des­tens zwei­hun­dert Jah­re. Ich befas­se mich der­zeit mit Joseph Perl aus Gali­zi­en (1773‒1839). Er war ein Mas­kil, ein so genann­ter auf­ge­klär­ter jüdi­scher Mann. Sein ers­tes Buch, Megal­leh Temi­rim (Ent­hül­ler der Geheim­nis­se, 1819), liest sich als Angriff auf den Chas­si­dis­mus. In sei­nem zwei­ten Buch, einem Roman, Bok­hen Tzadik (Auf der Suche nach dem Gerech­ten, 1838), sucht sein Prot­ago­nist nach recht­schaf­fe­nen Juden in Polen. Er fin­det kei­ne – weder unter den Auf­ge­klär­ten noch unter den Reli­giö­sen. Er begibt sich auf eine Rei­se auf die länd­li­che Krim, wo er fin­det, wonach er gesucht hat: Jüdi­sche Bau­ern, die ein erfül­le­nes Leben füh­ren. Die Fami­li­en sind selbst­ver­sor­gend. Sie leben ein­fach, essen und tra­gen, was sie pro­du­zie­ren. Sie sind Hand­wer­ker, die mit ihren Hän­den arbei­ten, um das her­zu­stel­len, was sie brau­chen. Ideo­lo­gisch gese­hen hät­te das Buch auch in den 1970er Jah­ren geschrie­ben wer­den können.

NL: Das klingt sehr romantisch. 

JS: Das war es auch! Heu­te erin­nern wir uns an die Haska­la als eine ratio­na­le Bewe­gung, aber sie war auch von der Roman­tik geprägt. Vie­le der Maski­len lasen Rous­se­au! Mehr noch, Perls Ideen- und Wer­te­vor­stel­lun­gen ent­spre­chen dem begin­nen­den Zio­nis­mus. Man den­ke nur an die Idee, dass jeder Mensch sein eige­nes Stück Land mit sei­nem Fei­gen­baum und sei­nem Wein­stock hat – eine bibli­sche Visi­on, die für die Moder­ne umge­stal­tet wur­de. Für sei­ne Zeit war Perl modern, sogar bahnbrechend.

NL: Fand die jüdi­sche Folk­lo­re auch ihren Aus­druck in Objek­ten, im Design?

JS: Das wäre etwas, auf das man ach­ten soll­te. Ich kann mir vor­stel­len, dass es so war. Die Schtetl waren länd­lich und stadt­nah, also gemischt länd­lich-urban. Die Juden teil­ten ihr täg­li­ches Leben mit Tie­ren, sie gin­gen auf die Fel­der, um fri­sche Blu­men für den Schab­bat zu pflü­cken. Vie­le ost­eu­ro­päi­sche Syn­ago­gen sind mit land­wirt­schaft­li­chen Moti­ven geschmückt. Das länd­li­che Juden­tum ist nicht aus­rei­chend erforscht wor­den; Wissenschaftler:innen haben sich viel mehr mit den städ­ti­schen intel­lek­tu­el­len Juden beschäf­tigt. Aber Jüdin­nen und Juden haben schon immer auf dem Lan­de gelebt. Sie haben sich nie von der Natur ent­frem­det, bezie­hungs­wei­se erst sehr spät in ihrer Geschichte.

NL: In der Schweiz trifft das jeden­falls zu…

JS: Ja, aber auch in den pol­ni­schen Schtetln. Die Erin­ne­rung an das Leben in den Klein­städ­ten hat­te immer einen Hauch von Nost­al­gie. Die Erzäh­lung von den ver­schwin­den­den jüdi­schen Dör­fern berühr­te die Her­zen vie­ler Städ­ter. Wie der Schrift­stel­ler und Eth­no­graph An-Ski schrieb: Das Leben auf dem Land war schon immer am Ran­de des Verschwindens.

NL: Jona­than, ich dan­ke Dir für Dei­nen Einblick.

verfasst am 07.11.2023