«Juden haben schon immer auf dem Land gelebt.»
Jonathan Schorsch über jüdischen Umweltschutz
Jonathan Schorsch ist Professor für jüdische Religions- und Geistesgeschichte an der Universität Potsdam und Leiter des Green Sabbath Project. Gemeinsam mit Dr. Efrat Gilad in Bern und Dr. Netta Cohen in Oxford etabliert er die jüdische Umweltgeschichte als neues Fachgebiet. Museumsdirektorin Naomi Lubrich sprach mit ihm über jüdische Zurück-zur-Natur-Bewegungen, ländliche Folklore und die kosmischen Folgen des einfachen Lebens.
Naomi Lubrich: Jonathan, was hat Sie dazu gebracht, sich mit jüdischem Umweltschutz zu beschäftigen?
Jonathan Schorsch: Ich war schon immer ein umweltorientierter Mensch, aber ich habe erst vor zehn Jahren, ca. 2013, begonnen, mich professionell mit Umweltschutz zu beschäftigen. Die Gründe dafür waren zum einen mein persönlicher Lebensweg – ich habe in der Bronx, Berkeley, Jerusalem und Berlin in unterschiedlicher Nähe zur Natur gelebt – und zum anderen die sich weltweit verschlechternden Nachrichten. Es ist ein Feld, das mir sehr am Herzen liegt und das noch nicht sehr bekannt ist.
NL: Was kann eine jüdische Perspektive zu Umweltstudien beitragen?
JS: Das Judentum hat rituelle Praktiken für ein nachhaltiges Leben entwickelt. Die jüdischen Vorstellungen von Mitzwot, guten Taten, überschneiden sich erheblich mit dem ökologischen Denken. Bei beiden geht es darum, ethisch zu leben, unsere Handlungen zu regulieren, unser Essen zu kontrollieren und unser persönliches Verhalten zu steuern. Beide haben auch ein gemeinschaftliches Motiv, die aus Richtlinien und Gesetzen für die Gesellschaft als Ganzes besteht. Das kabbalistische Judentum bringt einen dritten Aspekt ein: Es berücksichtigt unseren persönlichen Einfluss auf unsere Welt, die kosmischen Konsequenzen unseres Handelns.
NL: Wie weit lässt sich der jüdische Umweltgedanke zurückverfolgen?
JS: Mindestens zweihundert Jahre. Ich befasse mich derzeit mit Joseph Perl aus Galizien (1773‒1839). Er war ein Maskil, ein so genannter aufgeklärter jüdischer Mann. Sein erstes Buch, Megalleh Temirim (Enthüller der Geheimnisse, 1819), liest sich als Angriff auf den Chassidismus. In seinem zweiten Buch, einem Roman, Bokhen Tzadik (Auf der Suche nach dem Gerechten, 1838), sucht sein Protagonist nach rechtschaffenen Juden in Polen. Er findet keine – weder unter den Aufgeklärten noch unter den Religiösen. Er begibt sich auf eine Reise auf die ländliche Krim, wo er findet, wonach er gesucht hat: Jüdische Bauern, die ein erfüllenes Leben führen. Die Familien sind selbstversorgend. Sie leben einfach, essen und tragen, was sie produzieren. Sie sind Handwerker, die mit ihren Händen arbeiten, um das herzustellen, was sie brauchen. Ideologisch gesehen hätte das Buch auch in den 1970er Jahren geschrieben werden können.
NL: Das klingt sehr romantisch.
JS: Das war es auch! Heute erinnern wir uns an die Haskala als eine rationale Bewegung, aber sie war auch von der Romantik geprägt. Viele der Maskilen lasen Rousseau! Mehr noch, Perls Ideen- und Wertevorstellungen entsprechen dem beginnenden Zionismus. Man denke nur an die Idee, dass jeder Mensch sein eigenes Stück Land mit seinem Feigenbaum und seinem Weinstock hat – eine biblische Vision, die für die Moderne umgestaltet wurde. Für seine Zeit war Perl modern, sogar bahnbrechend.
NL: Fand die jüdische Folklore auch ihren Ausdruck in Objekten, im Design?
JS: Das wäre etwas, auf das man achten sollte. Ich kann mir vorstellen, dass es so war. Die Schtetl waren ländlich und stadtnah, also gemischt ländlich-urban. Die Juden teilten ihr tägliches Leben mit Tieren, sie gingen auf die Felder, um frische Blumen für den Schabbat zu pflücken. Viele osteuropäische Synagogen sind mit landwirtschaftlichen Motiven geschmückt. Das ländliche Judentum ist nicht ausreichend erforscht worden; Wissenschaftler:innen haben sich viel mehr mit den städtischen intellektuellen Juden beschäftigt. Aber Jüdinnen und Juden haben schon immer auf dem Lande gelebt. Sie haben sich nie von der Natur entfremdet, beziehungsweise erst sehr spät in ihrer Geschichte.
NL: In der Schweiz trifft das jedenfalls zu…
JS: Ja, aber auch in den polnischen Schtetln. Die Erinnerung an das Leben in den Kleinstädten hatte immer einen Hauch von Nostalgie. Die Erzählung von den verschwindenden jüdischen Dörfern berührte die Herzen vieler Städter. Wie der Schriftsteller und Ethnograph An-Ski schrieb: Das Leben auf dem Land war schon immer am Rande des Verschwindens.
NL: Jonathan, ich danke Dir für Deinen Einblick.
verfasst am 07.11.2023
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