Collage, Daniel Zisenwine
Medaille in Bronze mit Männerkopf
Medaille in Bronze
Tora-Aufsatz

Daniel Zisenwine, gezeichnet von Marva Gradwohl.

Medaille zur Feier des 50. Jubiläums der Alliance Israélite Universelle, 1910, JMS 557.

Medaille zut Feier des 50. Jubiläums der Alliance Israélite Universelle, 1910, JMS 557.

Rimon, Tora-Aufsatz, Mittelmeerraum, 19. Jahrhundert, JMS 784.

Wer waren die Juden Nordafrikas?

Vier Fragen an Daniel Zisenwine

Dani­el Zisen­wi­ne ist Nah­ost­wis­sen­schaft­ler und Gast­re­fe­rent an der Uni­ver­si­tät Basel. Er lehrt unter ande­rem über jüdi­sche Gemein­den in Nord­afri­ka. Muse­ums­di­rek­to­rin Nao­mi Lubrich sprach mit ihm über Juden in Gesell­schaf­ten, die mehr­heit­lich mus­li­misch sind, über den nord­afri­ka­ni­schen Gewürz- und Leder­han­del und über die jüdisch-fran­ko­pho­ne Erziehung.

Nao­mi Lubrich: Lie­ber Dani­el, wer waren die Juden Nordafrikas?

Dani­el Zisen­wi­ne: Die Juden aus dem Maghreb leb­ten in Marok­ko, Alge­ri­en, Tune­si­en und in Tei­len Liby­ens. Die­se Gemein­den waren regio­nal unter­schied­lich: Stadt­ju­den leb­ten an der Küs­te, Land­ju­den in den Berg­re­gio­nen des Atlas. Im Jahr 1492 brach­te die Spa­ni­sche Inqui­si­ti­on einen Zustrom sephar­di­scher Juden nach Nord­afri­ka, die eige­ne, neue Gemein­den grün­de­ten, wobei die Dif­fe­ren­zen zu den eta­blier­ten Gemein­den spä­ter nach­lies­sen. Die Juden leb­ten in die­sen mehr­heit­lich mus­li­mi­schen Gesell­schaf­ten mehr oder weni­ger zurück­ge­zo­gen, meist in ummau­er­ten, aber durch­läs­si­gen jüdi­schen Vier­teln, den Mel­lahs. Nach mus­li­mi­schem Reli­gi­ons­recht wur­den sie als Dhim­mis, als Ange­hö­ri­ge einer mono­the­is­ti­schen Reli­gi­on, aner­kannt, was sie zwar ein­schränk­te, aber ein gewis­ses Mass an Schutz und Rech­ten bot. Die Juden Nord­afri­kas ver­füg­ten über eine beträcht­li­che Auto­no­mie, zum Bei­spiel in Fra­gen des Rechts und der Bil­dung. Regel­mäs­sig kam es zu anti­jü­di­schen Aus­schrei­tun­gen. Die­se waren jedoch weni­ger aggres­siv als die­je­ni­gen in Europa.

NL: Es gibt ver­schie­de­ne Bezeich­nun­gen für die nord­afri­ka­ni­schen Juden. Wel­che sind richtig?

DZ: Ich ver­wen­de den Begriff «Maghreb», der «Wes­ten» bedeu­tet und die grös­se­re kul­tu­rel­le und poli­ti­sche Regi­on bezeich­net. In Isra­el hat sich der Begriff «Miz­rahi» für Jüdin­nen und Juden aus dem Nahen Osten, ein­schliess­lich Nord­afri­ka, ein­ge­bür­gert, aber er ist nicht kor­rekt: «Miz­rahi» bedeu­tet «Osten», was aus israe­li­scher Sicht dem Maghreb dia­me­tral ent­ge­gen­ge­setzt ist. Noch weni­ger kor­rekt, aber lei­der auch weit ver­brei­tet, ist der Begriff «sephar­disch», der sich spe­zi­ell auf die von spa­ni­schen Juden nach ihrer Ver­trei­bung gegrün­de­ten Gemein­den bezieht. Eini­ge nuten den Begriff «ara­bi­sche Juden», um den sprach­li­chen und kul­tu­rel­len Hin­ter­grund die­ser Gemein­schaf­ten zu beto­nen. Aber auch die­ser Begriff ist unge­nau, da nur weni­ge jüdi­sche Quel­len aus die­sen Gemein­den die­se Bezeich­nung verwenden.

NL: Gab es viel Kon­takt zwi­schen den maghre­bi­ni­schen und den euro­päi­schen jüdi­schen Gemeinden?

DZ: In der vor­ko­lo­nia­len Zeit gab es Kon­takt, vor allem im Han­del. Die wich­tigs­ten Berüh­rungs­punk­te waren Livor­no in Ita­li­en mit sei­nem von tune­si­schen Kauf­leu­ten fre­quen­tier­ten Hafen und Mar­seil­le in Frank­reich mit sei­nem Hafen für den Han­del mit Alge­ri­en und Marok­ko. Die Maghreb-Regi­on pro­du­zier­te Gewür­ze und Leder, von Schu­hen bis zu Hand­ta­schen. Da vie­le der maghre­bi­ni­schen Juden Hand­wer­ker und Kauf­leu­te waren, hat­ten sie Ver­bin­dun­gen zu ihren euro­päi­schen Kunden.

NL: Wel­chen Ein­fluss hat­te die fran­zö­si­sche Kolo­ni­sie­rung auf die maghre­bi­ni­schen Juden?

DZ: Die fran­zö­si­sche Inva­si­on in Alge­ri­en im Jahr 1830 hat­te tief­grei­fen­de Aus­wir­kun­gen auf die Regi­on. Die­se Inva­si­on war furcht­bar gewalt­tä­tig und hin­ter­liess die alge­ri­schen Mus­li­me besiegt und ent­eig­net. Ein hal­bes Jahr­hun­dert spä­ter, im Jahr 1881, kolo­ni­sier­te Frank­reich Tune­si­en. Wäh­rend die mus­li­mi­sche Gemein­schaft sehr unter der fran­zö­si­schen Herr­schaft litt, war die jüdi­sche Bevöl­ke­rung den Fran­zo­sen gegen­über freund­li­cher gestimmt. Dank der Bemü­hun­gen der Alli­ance Israé­li­te Uni­ver­sel­le, einer Pari­ser Orga­ni­sa­ti­on, die Bil­dungs- und Wohl­fahrts­pro­gram­me für Glau­bens­ge­nos­sen in Nord­afri­ka und dem Nahen Osten anbot und fran­zö­si­sche Bil­dung und Kul­tur ver­mit­tel­te, nah­men vie­le Juden die fran­zö­si­sche Kul­tur an. Die Alli­ance Israé­li­te eröff­ne­te ihre ers­te Schu­le 1862 in Tétou­an, Marok­ko. In Alge­ri­en ging Frank­reich sogar noch wei­ter und gewähr­te 1870 der gesam­ten jüdi­schen Gemein­schaft die Staats­bür­ger­schaft, nach­dem sich der fran­zö­si­sche jüdi­sche Minis­ter Cré­mieux dafür ein­ge­setzt hat­te. Die Akzep­tanz der fran­zö­si­schen Kul­tur durch die Juden war jedoch auch ein Grund dafür, dass vie­le Nord­afri­ka ver­lies­sen. Die Abwan­de­rung nahm wei­ter zu nach der Unab­hän­gig­keit ihrer Län­der in der Mit­te des 20. Jahr­hun­derts und der Grün­dung Isra­els. In Alge­ri­en wan­der­ten zwei Drit­tel der jüdi­schen Gemein­de in das fran­ko­pho­ne Euro­pa aus, unter ande­rem nach Genf und Lau­sanne, wäh­rend das rest­li­che Drit­tel in Isra­el und in Über­see, etwa in Mont­re­al, eine neue Hei­mat fand. Die Zah­len sind erschüt­ternd: 1948 leb­ten in Alge­ri­en 120 000 Juden, heu­te gibt es kei­ne mehr. In Marok­ko waren es 250 000, und heu­te sind es nur noch knapp 2500. Die Juden haben in eini­gen die­ser Län­der, ins­be­son­de­re in Marok­ko, ein Vaku­um hin­ter­las­sen. Älte­re marok­ka­ni­sche Mus­li­me den­ken an die Jüdin­nen und Juden mit Nost­al­gie und behaup­ten, dass die Zei­ten vor dem Weg­gang der Juden bes­ser waren. Sie erin­nern sich gern an jüdi­sche Nach­barn und die Exis­tenz die­ser ehe­ma­li­gen jüdi­schen Gemeinden.

NL: Dani­el, hof­fen wir, dass die schö­nen Erin­ne­run­gen wei­ter­be­stehen. Vie­len Dank für die­sen fas­zi­nie­ren­den Ein­blick in eine Kul­tur, die so gut wie ver­schwun­den ist.

verfasst am 30.11.2023