Wer waren die Juden Nordafrikas?
Vier Fragen an Daniel Zisenwine
Daniel Zisenwine ist Nahostwissenschaftler und Gastreferent an der Universität Basel. Er lehrt unter anderem über jüdische Gemeinden in Nordafrika. Museumsdirektorin Naomi Lubrich sprach mit ihm über Juden in Gesellschaften, die mehrheitlich muslimisch sind, über den nordafrikanischen Gewürz- und Lederhandel und über die jüdisch-frankophone Erziehung.
Naomi Lubrich: Lieber Daniel, wer waren die Juden Nordafrikas?
Daniel Zisenwine: Die Juden aus dem Maghreb lebten in Marokko, Algerien, Tunesien und in Teilen Libyens. Diese Gemeinden waren regional unterschiedlich: Stadtjuden lebten an der Küste, Landjuden in den Bergregionen des Atlas. Im Jahr 1492 brachte die Spanische Inquisition einen Zustrom sephardischer Juden nach Nordafrika, die eigene, neue Gemeinden gründeten, wobei die Differenzen zu den etablierten Gemeinden später nachliessen. Die Juden lebten in diesen mehrheitlich muslimischen Gesellschaften mehr oder weniger zurückgezogen, meist in ummauerten, aber durchlässigen jüdischen Vierteln, den Mellahs. Nach muslimischem Religionsrecht wurden sie als Dhimmis, als Angehörige einer monotheistischen Religion, anerkannt, was sie zwar einschränkte, aber ein gewisses Mass an Schutz und Rechten bot. Die Juden Nordafrikas verfügten über eine beträchtliche Autonomie, zum Beispiel in Fragen des Rechts und der Bildung. Regelmässig kam es zu antijüdischen Ausschreitungen. Diese waren jedoch weniger aggressiv als diejenigen in Europa.
NL: Es gibt verschiedene Bezeichnungen für die nordafrikanischen Juden. Welche sind richtig?
DZ: Ich verwende den Begriff «Maghreb», der «Westen» bedeutet und die grössere kulturelle und politische Region bezeichnet. In Israel hat sich der Begriff «Mizrahi» für Jüdinnen und Juden aus dem Nahen Osten, einschliesslich Nordafrika, eingebürgert, aber er ist nicht korrekt: «Mizrahi» bedeutet «Osten», was aus israelischer Sicht dem Maghreb diametral entgegengesetzt ist. Noch weniger korrekt, aber leider auch weit verbreitet, ist der Begriff «sephardisch», der sich speziell auf die von spanischen Juden nach ihrer Vertreibung gegründeten Gemeinden bezieht. Einige nuten den Begriff «arabische Juden», um den sprachlichen und kulturellen Hintergrund dieser Gemeinschaften zu betonen. Aber auch dieser Begriff ist ungenau, da nur wenige jüdische Quellen aus diesen Gemeinden diese Bezeichnung verwenden.
NL: Gab es viel Kontakt zwischen den maghrebinischen und den europäischen jüdischen Gemeinden?
DZ: In der vorkolonialen Zeit gab es Kontakt, vor allem im Handel. Die wichtigsten Berührungspunkte waren Livorno in Italien mit seinem von tunesischen Kaufleuten frequentierten Hafen und Marseille in Frankreich mit seinem Hafen für den Handel mit Algerien und Marokko. Die Maghreb-Region produzierte Gewürze und Leder, von Schuhen bis zu Handtaschen. Da viele der maghrebinischen Juden Handwerker und Kaufleute waren, hatten sie Verbindungen zu ihren europäischen Kunden.
NL: Welchen Einfluss hatte die französische Kolonisierung auf die maghrebinischen Juden?
DZ: Die französische Invasion in Algerien im Jahr 1830 hatte tiefgreifende Auswirkungen auf die Region. Diese Invasion war furchtbar gewalttätig und hinterliess die algerischen Muslime besiegt und enteignet. Ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 1881, kolonisierte Frankreich Tunesien. Während die muslimische Gemeinschaft sehr unter der französischen Herrschaft litt, war die jüdische Bevölkerung den Franzosen gegenüber freundlicher gestimmt. Dank der Bemühungen der Alliance Israélite Universelle, einer Pariser Organisation, die Bildungs- und Wohlfahrtsprogramme für Glaubensgenossen in Nordafrika und dem Nahen Osten anbot und französische Bildung und Kultur vermittelte, nahmen viele Juden die französische Kultur an. Die Alliance Israélite eröffnete ihre erste Schule 1862 in Tétouan, Marokko. In Algerien ging Frankreich sogar noch weiter und gewährte 1870 der gesamten jüdischen Gemeinschaft die Staatsbürgerschaft, nachdem sich der französische jüdische Minister Crémieux dafür eingesetzt hatte. Die Akzeptanz der französischen Kultur durch die Juden war jedoch auch ein Grund dafür, dass viele Nordafrika verliessen. Die Abwanderung nahm weiter zu nach der Unabhängigkeit ihrer Länder in der Mitte des 20. Jahrhunderts und der Gründung Israels. In Algerien wanderten zwei Drittel der jüdischen Gemeinde in das frankophone Europa aus, unter anderem nach Genf und Lausanne, während das restliche Drittel in Israel und in Übersee, etwa in Montreal, eine neue Heimat fand. Die Zahlen sind erschütternd: 1948 lebten in Algerien 120 000 Juden, heute gibt es keine mehr. In Marokko waren es 250 000, und heute sind es nur noch knapp 2500. Die Juden haben in einigen dieser Länder, insbesondere in Marokko, ein Vakuum hinterlassen. Ältere marokkanische Muslime denken an die Jüdinnen und Juden mit Nostalgie und behaupten, dass die Zeiten vor dem Weggang der Juden besser waren. Sie erinnern sich gern an jüdische Nachbarn und die Existenz dieser ehemaligen jüdischen Gemeinden.
NL: Daniel, hoffen wir, dass die schönen Erinnerungen weiterbestehen. Vielen Dank für diesen faszinierenden Einblick in eine Kultur, die so gut wie verschwunden ist.
verfasst am 30.11.2023
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