«Judaica-Fälschungen führten die Wissenschaft in die Irre»
Sechs Fragen an
Christina Meri
Fälschungen sind eine Herausforderung jeder Sammeltätigkeit, auch unserer eigenen. Der Austausch mit anderen Jüdischen Museen wirft seit wenigen Jahren neues Licht auf zweifelhafte Judaica. Sammlungskuratorin Christina Meri hat verdächtige Objekte identifiziert und spricht im Interview mit Museumsleiterin Naomi Lubrich über aus der Zeit gefallene Schrauben, Punzen, Versatzstücke – und über den weltweiten Handel mit jüdischer Nostalgie.
Naomi Lubrich: Liebe Christina, Du beschäftigst Dich mit falschen Judaica. Welche verschiedenen Typen gibt es?
Christina Meri: Es gibt zwei Kategorien: Fälschungen und Verfälschungen, die den Käuferinnen und Käufern historische Authentizität vortäuschen sollen, bei Silber oft mithilfe gefälschter Silbermarken. Fälschungen sind eine grosse Anzahl von Hochzeitsringen im Besitz jüdischer Museen weltweit, die bis vor Kurzem als alter italienischer Schmuck gehandelt wurden.
NL: …und Verfälschungen?
CM: Verfälschungen sind authentische Antiquitäten, die nachträglich ‹judaisiert› wurden, meistens durch hebräische Inschriften. Oft wurden dekorative Zuckerdosen oder Zahnstocher-Halter als Besamim-Behältern (=Gewürzdosen) verkauft, weil Judaica seltener sind und deshalb höhere Preise erzielten als normales Tafelsilber. Andere Verfälschungen bestehen aus mehreren wiederverwendeten Bestandteilen. Wir haben einen Kiddusch-Becher, dessen Stilfuss aus einem ehemaligen Kerzenhalter besteht. Bei diesen Komposita findet man oft eine authentische Silbermarke auf einem der Bestandteile.
NL: Wie sind sie ins Jüdische Museum gekommen?
CM: Der Handel mit alten Judaica begann im 19. Jahrhundert, als private Sammler:innen repräsentative, ästhetische Judaica erwarben. Darunter waren auch viele Vorzeigeobjekte für die Vitrine, die nicht für den Gebrauch geeignet waren. An der Wende zum 20. Jahrhundert unterstützten Komitees und Fördervereine für jüdisches Kulturgut die Entstehung von jüdischen Museen oder Abteilungen in Heimat- oder Volkskundemuseen verschiedener europäischer Städte. Jüdisches Kultgerät wurde unter ethnologischen oder kunsthistorischen Gesichtspunkten untersucht. Dies liess auch die Nachfrage nach Judaica steigen, und entsprechend wuchs auch das Angebot an alten – oder eben nicht so alten – jüdischen Antiquitäten im Handel. Unsere Sammlung hat Judaica in den ersten Gründungsjahren 1966 als Dauerleihgaben anderer Schweizer Museen und als Schenkungen von Privatpersonen erhalten. Das Museum hat aber auch unwissentlich Fälschungen angekauft.
NL: Wie untersucht man ein Objekt auf seine Echtheit?
CM: Wir untersuchen Objekte auf ihre Qualität und Verarbeitung hin im Vergleich mit anderen Objekten aus derselben Epoche. Oft erkennt man falsche Silberobjekte an Schrauben, die nicht zeitgemäss sind, am Gewinde oder an der Lötung. Um den Wert eines Judaica-Objekts zu steigern, werden falsche Punzen von namhaften Silberschmiedestädten benutzt. Wenn Stadt- und Silberschmiedemarken zum Beispiel nicht zueinander passen, ist das Objekt nicht echt. Und auch qualitativ: Fälscher:innen erreichen die Qualität der Spitzenprodukte selten. Bei den Komposita hilft es, die einzelnen Bestandteile stilistisch zu untersuchen. Man erkennt es leicht, wenn ein Teil nach Biedermeier und ein anderes nach Rococo aussieht. Verfälschungen entlarvt man, wenn die eingravierten Inschriften handwerkliche Mängel oder orthographische Fehler enthalten. Und zuletzt kann man schauen, ob Zeremonialgegenstände für ihren Zweck geeignet sind, also ob sie überhaupt funktionieren. Wir haben Besamim-Behälter in unserer Sammlung mit so engen Öffnungen, dass man Gewürze kaum rein- und schon gar nicht rausbekommt.
NL: Sind die Fälschungen in allen Museen gleich?
CM: Ja, zumindest die Jüdischen Museen in Europa haben ähnliche Falsifikate, so dass wir glauben, dass ein gemeinsames Netzwerk von Fälscher:innen die Museen belieferten. Diese Arbeit ist detektivisch – und sehr spannend!
NL: Wie wird man über diese Objekte in dreissig Jahren schreiben?
CM: Lange Zeit haben die Falsifikate die Wissenschaft in die Irre geführt. Sie fanden Eingang in Werkverzeichnisse und Sekundärliteratur. Sie prägten unser Verständnis dessen, wie religiöse Bräuche gefeiert wurden. Doch sind die falschen Judaica des ausgehenden 19. Jahrhunderts auch Zeitdokumente, Ausdruck ihrer Epoche. Manche spiegeln den Wunsch der neu gleichberechtigten Jüdinnen und Juden nach dekorativen Zeugnissen, nach einer würdigen Vergangenheit. Die Objekte sind repräsentativ – oder sollen Nostalgie erzeugen. In dreissig Jahren wird man Fälschungen hoffentlich verstehen, eindeutig bestimmen können und ihren Entstehungskontext aufgearbeitet haben.
NL: Liebe Christina, hoffentlich geht das schneller! Vielen Dank, dass Du Dein Wissen mit uns teilst – sowie die folgenden Literaturangaben:
Vivian B. Mann, The First English Collector of Jewish Wedding Rings and their Dealers, in: IMAGES, Bd. 11, Leiden 2018, 177–185.
Alfred Moldovan, Foolishness, Fakes, and Forgeries in Jewish Art. An Introduction to the Discussion on Judaica Conservation and Collecting Today, in: Clare Moore (Hrsg.), The Visual Dimension. Aspects of Jewish Art, 1. Aufl., Routledge 1993, 105–119.
Bernhard Purin, Judaica in Süddeutschland. Eine Typologie, Kap. 6: Fälschungen, Verfälschungen und Repliken, in: Otto Lohr, Bernhard Purin (Hrsg.), Jüdisches Kulturgut. Erkennen-Bewahren-Vermitteln, Berlin/München 2017, 90–93.
Jay Weinstein, A Collectors’ Guide to Judaica, Kap. 18: Fakes and Forgeries, London 1985.
verfasst am 11.07.2023
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