«Ein paar Zentimeter mehr, und keine Frage wäre offen.»
Roger Harmon über den Basler mittelalterlichen Datums-Stein
Roger Harmon, ein Spezialist für hebräische Inschriften, machte das Jüdische Museum kürzlich auf ein Fragment eines Basler Grabsteins aufmerksam, dessen Datum Rätsel aufwirft. Museumsleiterin Naomi Lubrich sprach mit ihm über diesen Fund, der ab dem 3. September 2023 in der Dauerausstellung des Jüdischen Museums ausgestellt wird, über die Stellung Basels im mittelalterlichen Aschkenas und über die überragende Bedeutung eines Leerzeichens in der hebräischen Datierung.
Naomi Lubrich: Lieber Roger, neulich wurde ein Grabsteinfragment wiedergefunden, das lange Zeit vergessen war. Kannst Du etwas dazu sagen?
Roger Harmon: Gerne! Das Fragment ist 1937 gefunden und entziffert worden. Anschliessend wurde der Stein ins Depot des Historischen Museums Basel überführt, wo er die Inventarnummer 1939.774 erhielt. Dort schlummerte er seither. Ich hatte über diesen Stein und dessen Datierung gelesen, hatte ihn jedoch nie gesehen. Kürzlich schickte mir Simon Erlanger (Judaistik, Universität Luzern) ein altes Schwarzweissfoto, auf dem er gestochen scharf zu sehen ist. Ich fand, dass wir die Datierung erneut diskutieren sollten.
NL: Und was ist darauf zu lesen?
RH: Das ist eine Interpretationsfrage. Auf dem Stein erkennt man fünf Zeichen: תסד לפ. Zwei sind Ziffern, (סד) und zwei sind Buchstaben (לפ), das Zeichen rechts – Taw (ת)? – bleibt unbestimmt. Wichtig zu wissen: Hebräisch verwendet Buchstaben als Ziffern. Unbestritten sind סד (64) und die Formel לפ[“ק] (lif[rat katan], kleine Zählung). Komplizierter ist es mit dem Taw (ת). Ist es eine Ziffer (400) oder ein Buchstabe (t)? Ist es ein Buchstabe, gehört es zum Wort שנת (Schenat, Jahr). Dann wäre die Jahreszahl [50]64, nach dem gregorianischen Kalender 1303/4. Ist das Taw hingegen eine Ziffer, liest man die Jahreszahl als ת’]ת’ס’ד’] ie [4]864 im gregorianischen Kalender 1103/4. Oder hat es einen Steinschaden gegeben, und der Buchstabe ist nicht ein Taw (ת), sondern ein Chet (ח)? Dann stellt sich die Datumsfrage ganz neu.
NL: Das Rätsel bleibt ungelöst?
RH: Ja. Ein paar Zentimeter mehr, und keine Frage wäre offen.
NL: Woher kommt der Stein, und wie hat er Jahrhunderte überlebt?
RH: Er stammt vom mittelalterlichen jüdischen Friedhof in Basel beim Petersplatz. Nachdem am 16. Januar 1349 die Gemeinde vertrieben und die Mitglieder ermordet wurden, wurden die intakten Steine als Baumaterial neu genutzt. Die gebrochenen Steine und sonstige Fragmente liess man liegen.
NL: …das Fragment gehörte zu den liegengebliebenen Teilen. Wie wurde es gefunden?
RH: In den 1930ern wurde das Kollegienhaus der Universität Basel auf dem Gelände des Friedhofs gebaut. Dabei kamen 28 gebrochene Grabsteine und sonstige Fragmente zum Vorschein. 1937 wurden sie dem Historischen Museum Basel anvertraut. Bei der Gelegenheit schrieb Rabbiner Dr. Arthur Weill die Inschriften ab und erstellte eine Urkunde anlässlich der Einweihung des Kollegienhauses am 10. Juli 1939. Heute stehen fünf der 28 Grabstein(-Fragmente) im Innenhof des Jüdischen Museums, die anderen 23 bewahrt das Historische Museum Basel.
NL: Wie wurde der Datums-Stein bisher interpretiert?
RH: Rabbiner Weill las das Taw als Ziffer und datierte den Stein auf das Jahr 1103/4. Im Jahr 1962 jedoch las der Historiker Zvi Avnéri das Taw als Buchstaben und datierte den Stein auf das Jahr 1303/4, was zur communis opinio wurde (siehe Ginsburger 1968 und Meyer 2005). So wurden Rabbiner Weills Lesart «1103/4» und der ‹Datums-Stein› selbst vergessen.
NL: Was spricht aus Deiner Sicht für 1103/4?
RH: Beide Datierungen sind möglich. Gegen das Taw als Buchstaben spricht, dass ein Leerzeichen zwischen ihm und dem darauffolgenden Samech (ס) fehlt. Das Leerzeichen zwischen dem Dalet (ד) und dem Lapak (לפ[“ק]) ist hingegen deutlich zu sehen. Mit einer Ausnahme ist das Leerzeichen bei den anderen Basler Inschriften zwischen den Wörtern und zwischen den Wörtern und Ziffern eindeutig zu erkennen. Das spricht für 1103/4.
NL: Und was spricht dagegen?
RH: Gegen das Taw als Ziffer spricht die Tatsache, dass uns keine weiteren Inschriften aus dem 12. Jahrhundert vorliegen. Das Fragment wäre ein einsamer Ausreisser. Aber: ein Mangel an Beweisen ist kein Beweis eines Mangels. Im Englischen sagt man: «lack of evidence is not evidence of lack.»
NL: Was bedeutet der Stein für unser Wissen um Basels mittelalterliche jüdische Gemeinde?
RH: Geht man vom frühen Datum aus, 1103/4, so wäre der Stein Zeugnis einer Basler Gemeinde in der Zeit des berühmten Gelehrten, Raschi. Die Gemeinde wäre im selben Zeitrahmen wie die anderen jüdischen Gemeinden am Rhein zu verorten, die sich von Strasbourg bis Köln bildeten. Kern des deutschsprachigen Judentums sind die Städte Speyer, Worms, Mainz. Deren spirituelle Vorrangstellung wird heute als Weltkulturerbe gefeiert. Mit dem frühen Datum wären die Basler Jüdinnen und Juden Teil der formativen Gemeinden des aschkenasischen Judentums. Und das Datum würde eine Brücke zu einem weiteren Hinweis einer frühen Basler Gemeinde schlagen: Ein Memorbuch, das 1940 in Rotterdam vernichtet wurde, nannte eine Basler Jeschiwa (Gelehrtenschule), die zur Zeit des Ersten Kreuzzuges, 1096, zerstört wurde.
NL: Wie geht’s weiter mit dem Datums-Stein?
RH: Bei den Basler Grabsteinen gibt es viel zu tun. Nützlich wäre eine Typologie der Schriftzüge aller Basler Inschriften. Dann könnten wir sehen, ob sich die Schriftart des Datums-Steins zeitlich einordnen lässt. Demgegenüber könnte man die Wormser Inschriften des 11. Jahrhundert stellen. Darüberhinaus sollte man dem Hinweis aus dem verschollenen Rotterdamer Memorbuch nachgehen und weitere Belege einer Basler Jeschiwa suchen. Hinweise darauf könnten weit gestreut sein. Neben den Basler Grabsteinen ist mein persönlicher Arbeitsschwerpunkt das Elsass. Dort sind sechs jüdische Friedhöfe dokumentiert, die Inschriften digitalisiert und übersetzt. Für die Drucklegung bereite ich zwei Dokumentationen vor: Durmenach und Thann. Zwei weitere Friedhofs-Projekte, eines davon in der Schweiz, sind in Arbeit. In Hegenheim ist eine Genisa zum Vorschein gekommen. Auch da gibt es zu tun.
NL: Lieber Roger, dann möchte ich Dich nicht von der Arbeit abhalten. Vielen Dank für das Gespräch!
Quellen:
Cornelia Adler und Christoph Matt, Der mittelalterliche Friedhof der ersten jüdischen Gemeinde in Basel, Basel 2010, S. 27.
Zvi Avnéri, «Nouvelles inscriptions tumulaires du premier cimetière de Bâle», in: Revue des études juives 121, 1962, S. 181–193, hier S. 186–187 und 191, no. 11 (mit Tippfehler קד für recte סד).
Moïse Ginsburger, «Basel», in: Germania Judaica 2, hrsg. von Zvi Avnéri, Tübingen 1968, S. 51–55, hier S. 54 Anm. 12.
Werner Meyer, «Benötigt, geduldet, verachtet und verfolgt. Zur Geschichte der Juden in Basel zwischen 1200 und 1800», in: Acht Jahrhunderte Juden in Basel, hrsg. von Heiko Haumann, Basel 2005, S. 13–56, hier: S. 17 Anm. 7.
verfasst am 14.08.2023
© Illustration: Marva Gradwohl
© Abb.1: Nicolas Gebhart
© Abb.2: Archäologische Bodenforschung Basel-Stadt, Benedikt Wyss, Martin Allemann
Florian Lippke
über Religion und Auszeit
Sechs Fragen an
Christina Meri