«Man muss die Dinge ans Licht bringen!»

Vier Fragen an
Muriel Gerstner und
Sandra Sykora

Die Samm­lung des Jüdi­schen Muse­ums der Schweiz ent­hält Akten der Fami­li­en Höch­berg und Flörsheim/Flersheim, dar­un­ter einen Ehe­ver­trag und einen Bür­ger­eid aus dem 19. Jahr­hun­dert. Die Fami­lie grün­de­te damals in Frank­furt meh­re­re wohl­tä­ti­ge Stif­tun­gen. Wäh­rend der NS-Dik­ta­tur wur­den die Stif­tun­gen aus­ge­höhlt, die Vor­stän­de ver­folgt und das Ver­mö­gen geraubt. Nun geht die Leih­ge­be­rin, Nach­fah­rin und Bas­ler Büh­nen­bild­ne­rin Muri­el Gerst­ner zusam­men mit der Juris­tin Dr. San­dra Syko­ra der Geschich­te nach. Dr. Nao­mi Lubrich sprach mit ihnen dar­über, wie man heu­te eine sol­che Geschich­te erforscht.

Nao­mi Lubrich: Lie­be Muri­el, Du hast in der Pan­de­mie­zeit das Schick­sal der drei von Dei­ner Fami­lie gegrün­de­ten Stif­tun­gen erfor­schen las­sen und bist auf eine unheim­li­che Geschich­te gestos­sen. Was ist sie?

Muri­el Gerst­ner: Mei­ne Vor­fah­ren, dar­un­ter zwei Frau­en, hat­ten in Frank­furt am Main in der zwei­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts drei Stif­tun­gen gegrün­det und geführt. Die­se Stif­tun­gen ermög­lich­ten benach­tei­lig­ten Jugend­li­chen eine gute Aus­bil­dung und unter­hiel­ten zudem ein Kin­der­heim. In Frank­furt waren vor dem zwei­ten Welt­krieg weit über hun­dert wohl­tä­ti­ge jüdi­sche Stif­tun­gen aktiv, die so wich­ti­ge Initia­ti­ven wie bei­spiels­wei­se die Grün­dung der Goe­the-Uni­ver­si­tät (1914) mass­geb­lich finan­zier­ten. Wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus wur­den aller­dings alle jüdi­schen Stif­tun­gen in Frank­furt suk­zes­si­ve ent­rech­tet und schliess­lich ari­siert. Dein Stich­wort «unheim­lich» trifft buch­stäb­lich auf das Schick­sal des Kin­der­heims zu: Die Doku­men­te zei­gen, dass 1941/1942 alle Bewoh­ner die­ses Kin­der­heims, Betreue­rin­nen wie Wai­sen, vie­le davon unter elf Jah­ren, depor­tiert wor­den sind. Das Heim, das den Kin­dern bis dahin gegen alle Wid­rig­kei­ten Schutz gebo­ten hat­te, wur­de zur töd­li­chen Fal­le, zum Un-Heim.

NL: Was hast Du vor?

MuGe: Anhand der For­schung von San­dra zu den drei Stif­tun­gen las­sen sich Ein­sich­ten in die Wir­kungs­wei­se des NS-Appa­ra­tes gewin­nen, die weit über pri­va­te Anlie­gen hin­aus­ge­hen. Wir haben vor, die aus den öffent­li­chen Archi­ven gewon­ne­nen Erkennt­nis­se mit den Doku­men­ten aus mei­nem Fami­li­en­ar­chiv in einem Buch zusam­men­zu­füh­ren und den Dia­log zwi­schen der For­sche­rin und der Nach­fah­rin nach­zu­zeich­nen. Das Pro­jekt ist rele­vant: Auch in unse­rem heu­ti­gen Gesell­schafts­ver­trag spie­len Stif­tun­gen eine tra­gen­de Rol­le. Sie stüt­zen unser kul­tu­rel­les, wis­sen­schaft­li­ches und sozia­les Leben mass­geb­lich. Das hat­ten die libe­ra­len jüdi­schen Bür­ge­rin­nen und Bür­ger des 19. Jahr­hun­derts, die den Ideen der Auf­klä­rung unmit­tel­bar ver­pflich­tet waren, früh verstanden.

NL: San­dra, Du bist Juris­tin, Kunst­his­to­ri­kern und Exper­tin für Pro­ve­ni­enz. Was konn­test Du zur Auf­ar­bei­tung beitragen?

San­dra Syko­ra: Muri­el hat­te bereits Aus­zü­ge aus den Akten des Insti­tuts für Stadt­ge­schich­te zu den Stif­tun­gen erhal­ten. Ich habe dann sys­te­ma­tisch recher­chiert und fand umfang­rei­che Akten­be­stän­de. Sie bele­gen die Aus­plün­de­rung der Stif­tun­gen durch die dama­li­ge NS-Stadt­ver­wal­tung und die Gän­ge­lung und Ver­fol­gung der betei­lig­ten Vor­stän­de so umfas­send, so detail­reich, so per­fi­de, dass mir beim Lesen oft das Blut in den Adern gefror. Anfangs erzähl­te ich Muri­el nur häpp­chen­wei­se von den Fun­den, so uner­träg­lich waren sie. Dann ent­schie­den wir, dass ich die Akten­fun­de zusam­men mit der his­to­ri­schen und auch juris­ti­schen For­schungs­li­te­ra­tur in einem wis­sen­schaft­li­chen Bericht zusam­men­fas­se. Es war und ist eine gemein­sa­me Rei­se. Und sie bestä­tigt, was Muri­el sagt: Man muss die Din­ge ans Licht bringen.

NL: Das Stif­tungs­recht wur­de dreist aus­ge­he­belt. Wie ging das vor?

SaSy: Das Stif­tungs­recht an sich, das im 19. Jahr­hun­dert ver­fasst wur­de, blieb weit­ge­hend unan­ge­tas­tet. NS-Juris­ten dreh­ten an ande­ren Stellsch­räub­chen des dama­li­gen Rechts­sys­tems: Stif­tun­gen, die nicht aus­schliess­lich «deut­schen Volks­ge­nos­sen» zugu­te­ka­men, waren nicht mehr mild­tä­tig und ver­lo­ren dadurch steu­er­li­che Vor­tei­le; ihr Ver­mö­gen wur­de abge­zo­gen. Juden wur­den aus Vor­stän­den und jüdi­sche Namen aus den Stif­tungs­na­men ent­fernt; der Stif­ter­wil­le grob miss­ach­tet, Grund­stü­cke unter Wert von der Stadt erwor­ben. Schliess­lich wur­den die meis­ten jüdi­schen Stif­tun­gen, wie auch die von Muri­els Fami­lie gegrün­de­ten, in die Reichs­ver­ei­ni­gung der Juden in Deutsch­land ein­glie­dert. Deren Ver­mö­gen fiel an das Deut­sche Reich. Das Schick­sal der drei Stif­tun­gen steht also stell­ver­tre­tend für das von unzäh­li­gen ande­ren, die durch die Natio­nal­so­zi­als­ten als «Res­sour­ce» aus­ge­nom­men wur­den. Nur weni­ge Stif­tun­gen wur­den auf Betrei­ben ehe­ma­li­ger Vor­stän­de nach dem Krieg «wie­der­be­lebt». Mit der Aus­mer­zung der jüdi­schen Stif­tun­gen ging eine wert­vol­le Tra­di­ti­on jüdi­schen Mäze­na­ten­tums und Bür­ger­sinns ver­lo­ren. Und das Ver­trau­en in einen Staat, der den Stif­tern ein Ver­spre­chen gege­ben hat­te: Dass Stif­tun­gen für die Ewig­keit errich­tet sind.

NL: Vie­len Dank für die­sen Ein­blick in ein viel­ver­spre­chen­des Projekt!

verfasst am 20.10.2022