Rabbiner vor Toraschrein

«Ich habe einen Schtreimel in zwei Hälften geschnitten und zwei Hemden zusammengenäht.»

Fünf Fragen an
Akiva Weingarten

Rab­bi­ner Aki­va Wein­gar­ten beschreibt sich selbst mit dem unwahr­schein­li­chen Begriff «libe­ral-chas­si­disch». Er ver­liess 2014 die ultra-ortho­do­xe Sat­mar-Gemein­de und wur­de 2019 Rab­bi­ner von Mig­wan in Basel wie auch von der jüdi­schen Gemein­de in Dres­den. Weni­ge Tage vor Beginn der Pan­de­mie grün­de­te er in Dres­den die Besht Jeschi­wa, die ehe­ma­li­ge Chare­dim unter­stützt. Die­ses Jahr ver­öf­fent­lich­te er sei­ne Bio­gra­fie, Ultra-Ortho­dox. Nao­mi Lubrich sprach mit ihm über sei­nen Weg, sei­ne Plä­ne und sein berühm­tes Porträt.

Nao­mi Lubrich: Aki­va, Dein Buch «Ultra-Ortho­dox» ist die­ses Jahr erschie­nen. War­um hast Du es geschrieben?

Aki­va Wein­gar­ten: Ich bin ein Ex-Chare­di, ein so genann­ter OTD, das Akro­nym für Men­schen, die «Off the Derech» (deutsch: Abseits des Weges) sind. Als die­ses The­ma in den Fokus der Medi­en rück­te, gab ich meh­re­re Inter­views, unter ande­rem mit dem Spie­gel, der Deut­schen Wel­le und Arte. Ein Ver­le­ger las die Arti­kel und schlug mir vor, eine Bio­gra­fie zu schrei­ben. Das habe ich dann getan. Die letz­ten zwei Jah­re waren sehr inten­siv. Neben dem Schrei­ben des Buches und dem Dienst in zwei Gemein­den habe ich eine Jeschi­wa gegrün­det, um ande­ren OTDs zu hel­fen, den Weg in die Mehr­heits­ge­sell­schaft zu finden.

NL: Das ist eine gros­se Ver­ant­wor­tung! Was sind die unmit­tel­ba­ren Bedürf­nis­se der OTDs?

AW: Men­schen, die die chare­di­sche Gemein­schaft ver­las­sen, brau­chen Unter­richt in Natur­wis­sen­schaf­ten und Spra­chen, einen Schul­ab­schluss, und eine stüt­zen­de Infra­struk­tur. Es gibt vie­le, die aus­stei­gen wol­len, und es ist schwie­rig, ihnen allen zu hel­fen. Wir haben der­zeit eine War­te­lis­te mit 106 Per­so­nen, die Unter­stüt­zung benö­ti­gen. Wir wen­den uns nicht ein­mal aktiv an sie. Wir machen kei­ne Wer­bung. Die Leu­te kom­men über Mund­pro­pa­gan­da zu uns. Frü­her waren es meist jun­ge, unver­hei­ra­te­te Män­ner, von denen vie­le schwul waren. Jetzt sind es mehr­heit­lich Frauen.

NL: Kön­nen die jüdi­schen Gemein­den helfen?

AW: Bis zu einem gewis­sen Grad schon, aber Pro­jek­te wie die­se müs­sen finan­ziert wer­den, und in Deutsch­land ist die Sozi­al­po­li­tik meist staat­lich. Es ist schwer, sich mit einem neu­en Pro­jekt einen Weg in die Struk­tu­ren der Wohl­tä­tig­keits­or­ga­ni­sa­tio­nen zu bahnen.

NL: Du arbei­test zwi­schen Deutsch­land und der Schweiz. Wie unter­schei­den sich die Gemeinden?

AW: Die Schwei­zer Gemein­den sind alt und gut eta­bliert; sie haben gemein­sa­me Wer­te und Ver­ant­wort­lich­kei­ten, die über Gene­ra­tio­nen wei­ter­ge­ge­ben wur­den. Die deut­schen Gemein­den sind neu, sie wer­den oft von Neu­an­kömm­lin­gen geführt, von denen eini­ge nur wenig oder gar kein jüdi­sches Erbe aus ers­ter Hand haben. Es ist bemer­kens­wert, wie auf­fal­lend die natio­na­len Unter­schie­de zwi­schen den Gemein­den sein kön­nen: Neh­men wir die inter­re­li­giö­se Ehe, eine der drän­gends­ten Fra­gen unse­rer Zeit. Sie ist der Grund dafür, dass vie­le Gemein­den in Euro­pa schrump­fen. In den Ver­ei­nig­ten Staa­ten hin­ge­gen wach­sen die Gemein­den, die inter­re­li­giö­sen Ehen gegen­über auf­ge­schlos­sen sind. Sie zah­len jedoch einen Preis in Form von Zuge­ständ­nis­sen an die Halacha, das reli­giö­se Gesetz.

NL: Dein Por­trät von Fré­dé­ric Bren­ner ist in der Muse­ums­sze­ne berühmt gewor­den. Wie bist Du auf die Idee gekom­men, ein Bild mit einem hal­ben Bart und einem hal­ben Scht­rei­mel zu machen? 

AW: [lacht] Tat­säch­lich wur­de ich durch ein Foto im Inter­net inspi­riert, von einem nicht-jüdi­schen Mann, der sich die Hälf­te sei­ner Haa­re und sei­nes Bar­tes abra­siert hat­te. Auf die Fra­ge, «war­um?», ant­wor­te­te er: «Weil ich es kann.» Das ist eine gross­ar­ti­ge Ein­stel­lung. Und sie schien mir per­fekt für eine Adap­ti­on durch Fré­dé­ric und mich. Also habe ich einen gebrauch­ten Scht­rei­mel in zwei Hälf­ten geschnit­ten und zwei Hem­den zusam­men­ge­näht. Es hat Spass gemacht.

NL: Das kann ich mir vor­stel­len! Aki­va, vie­len Dank für Dei­nen Besuch.

verfasst am 29.09.2022