«Provenienzforschung ist immer ein Abenteuer!»
Sechs Fragen an
Catrina Langenegger
Catrina Langenegger ist Doktorandin am Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel. Für das Jüdische Museum der Schweiz hat sie einen Talmud (1578–80) aus den Druckereien Frobens (Basel) und Bombergs (Venedig) erforscht. Barbara Häne sprach mit ihr über die historische Forschungsarbeit, die Entzifferung von Kritzeleien und den Wert alter Bücher.
Barbara Häne: Liebe Catrina, Du bist eine Expertin für den Basler Talmud. Wie kam es dazu?
Catrina Langenegger: Ich habe mich während meines Studiums auf die jüdische und die Basler Geschichte spezialisiert, zwei Themen, die für den hebräischen und jiddischen Buchdruck im 16. Jahrhundert einschlägig sind. Der Basler Talmud als historisch aussergewöhnliches Grossprojekt hat schon früh mein Interesse geweckt. Als ich mich zur Wissenschaftlichen Bibliothekarin ausbilden liess, hatte ich die Möglichkeit, die Digitalisierung des Basler Talmuds im Bestand der Universitätsbibliothek zu begleiten. Als Teil des «Nachlass Buxtorf» hat die Unibibliothek eine seltene, vollständige Prachtausgabe des Basler Talmuds in ihren Beständen, die in Auszügen derjenigen gleicht, die im Jüdischen Museum ausliegt.
BH: Unser Exemplar ist durch viele Hände gegangen. Was konntest Du in Erfahrung bringen?
CL: Die komplizierten Wege, die die Bücher dieses Alters hinter sich haben, bevor sie in Sammlungen von Bibliotheken oder Museen kommen, sind beeindruckend. Dazu auch der Umgang mit Drucken in der Frühen Neuzeit – sie waren sowohl Prestige- als auch Alltagsobjekte. Wer es sich leisten konnte, hat sich einen Band als rohes Buch oder auch nur einige gedruckte Lagen gekauft und diese entweder von Hand zusammengebunden oder später zu einem Buchbinder gebracht und mehr oder weniger aufwändig gebunden. Der Talmudband in Eurer Sammlung ist dafür ein schönes Beispiel: Die Ausgabe ist alles andere als komplett, und die Traktate stammen aus unterschiedlichen Druckerpressen und Zeiten. Trotzdem wurden die einzelnen Traktate gesammelt und in einer nachvollziehbaren Reihenfolge zusammengebunden. Meine Vermutung ist, dass die Vorbesitzer mit den vorhandenen Mitteln eine möglichst vollständige Ausgabe herstellen wollten. Mit der Bindung wurden die Texte geschützt. Euer Exemplar zeigt aber, dass der Schutz eine Erwägungsfrage war, denn um die Seiten in die Buchdeckel einzupassen, wurden die Bögen beschnitten, teilweise sogar so, dass Texte verloren gingen. Euer Band wurde mehrfach repariert, das heisst, die Besitzer:innen investierten in seinen Erhalt. Er sollte auch von künftigen Generationen gebraucht werden. Das ist für mich ein Indiz dafür, dass sie es nicht in erster Linie als Wertanlage sahen, sondern tatsächlich nutzten.
BH: Welches war Deine grösste Herausforderung?
CL: Provenienzforschung ist immer ein Abenteuer! In diesem Fall hatte ich den Vorteil, dass wir mit dem Digitalisat aus der Unibibliothek Basel ein Vorbild haben, anhand dessen ich die Texte abgleichen konnte. Aber die Besitzer:innen der vergangenen vierhundert Jahren lassen sich nicht lückenlos ermitteln.
BH: Weswegen wurde der Talmud im 16. Jahrhundert ausgerechnet in Basel gedruckt?
CL: Basel war als Zentrum des Buchdrucks etabliert und auf den Druck von nichtlateinischen Schriften spezialisiert. Die Druckerei von Froben hatten vorher schöne hebräische Ausgaben gedruckt und dafür einen Absatzmarkt gefunden. Weiter profitierte Basel von einer geistigen Offenheit, die es ermöglichte, ein solches Projekt zu planen. Wohl spielte auch der Zufall mit, denn der Auftraggeber, Simon zur Gemse, hatte zuvor sein Projekt in anderen Städten umzusetzen versucht.
BH: Was vermutest Du, wie die Talmudausgabe genutzt wurde und wo sie vor dem 20. Jahrhundert womöglich in Gebrauch war?
CL: Handschriftliche Kritzeleien im Talmud weisen auf Sulzburg des frühen 18. Jahrhunderts hin. Womöglich wurde er dort in einer Talmudschule oder bei einer gelehrten Familie für das Studium verwendet. Danach verliert sich die Spur.
BH: Wie ordnest Du den Wert der Talmudausgabe kulturhistorisch ein?
CL: Jeder Druck dieses Alters ist sehr wertvoll! Und Hebraica sind noch einmal höher einzuschätzen, da sie immer wieder in Gefahr waren, als unchristliche Werke verbrannt zu werden. Als Buch für das Religionsstudium hat es zahlreiche Jahrhunderte überstanden, bevor es Zeuge des Zweiten Weltkriegs wurde. Also in einem Wort: hoch!
BH: Vielen Dank für das Gespräch, Catrina.
verfasst am 13.10.2022
JMS 220-2, Babylonischer Talmud, Traktate von Bomberg und des Basler Talmuds, 1578-80, Basel.
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