«Herzl trat zu einem Zeitpunkt auf, als sich Jüdinnen und Juden nach einer charismatischen, inspirierenden Leitfigur sehnten.»
Fünf Fragen an Derek Penslar
Im August jährt sich zum 125. mal der Erste Zionistenkongress in Basel. Der Mann, der den Kongress initiierte und leitete, war Theodor Herzl. Herzls Organisationstalent, Charisma und Energie bescherten allen Berichten zufolge den Erfolg der Veranstaltung. Wer war dieser Mann? Derek J. Penslar (Harvard University) hat eine neue Biografie über Theodor Herzl geschrieben, die 2022 unter dem Titel «Staatsmann ohne Staat» auf Deutsch erschienen ist (übersetzt von Norbert Juraschitz, Wallstein Verlag, Göttingen). Naomi Lubrich befragte Professor Penslar zu seiner Forschung.
Naomi Lubrich: Professor Penslar, Ihr Buch über Theodor Herzl, «Staatsmann ohne Staat», ist kürzlich auf Deutsch erschienen. Herzl war bereits aus vielen Blickwinkeln betrachtet worden. Was fügt Ihr Buch hinzu, was die früheren Biografien übersehen hatten?
Derek Penslar: Frühere Biografien konzentrierten sich auf die Konstruktion oder Dekonstruktion von Mythen – sie stellten Herzl als überlebensgrosse, heldenhafte Figur dar oder als einen geplagten jüdischen Intellektuellen des Fin de Siècle, der darum kämpft, seinen Platz in der Welt zu finden. In meiner Biografie werden diese beiden Ansätze in Einklang gebracht und als voneinander abhängig betrachtet: Herzls instabile Persönlichkeit in Verbindung mit seiner Brillanz, seinem Charisma und seinem Organisationstalent machten ihn zu einem grossen Anführer. Meine Herzl-Biografie unterscheidet sich von ihren Vorgängern auch dadurch, dass sie Führung als dialogisch versteht, als etwas, das von den Anhängern mitgeformt wird. Herzl betrat die Bühne zu einem Zeitpunkt, als sich Jüdinnen und Juden nach einer charismatischen, inspirierenden Leitfigur sehnten, die nicht durch bestehende und gescheiterte jüdische Institutionen belastet war.
NL: Sie führen eine Reihe von Gründen für Herzls Erfolg an, darunter auch psychologische. Herzl war depressiv, egozentrisch und ein Workaholic. Aber das zionistische Projekt gab ihm Stabilität. Wie?
DP: Herzl sehnte sich nach Grösse. Zunächst suchte er sie im Theater, aber obwohl er ein guter Dramatiker war, blieb sein Werk nicht in Erinnerung. Herzl war ein begabter Journalist, aber er hatte keinen Respekt vor seinem Handwerk. Während seiner Zeit als Journalist in Paris erkannte er, wie korrupt die Welt der Politik sein konnte. Der Zionismus dagegen war für Herzl ein reines Ideal, dem er sein Leben widmen und auf das er seine Energie konzentrieren konnte.
NL: Ein Grund für Herzls Erfolg war der abnehmende Einfluss der rabbinischen Autoritäten seiner Zeit. Herzl wusste nicht viel über das Judentum. Welche Rolle spielte die jüdische Kultur in seiner Vision eines neuen Staates?
DP: Für Herzl war die jüdische Kultur Teil der europäischen Kultur. Er sah sie nicht als etwas Getrenntes an. Herzl war weder gegenüber der hebräischen noch der jiddischen Kultur feindlich eingestellt, aber sein Judentum war das Judentum eines kosmopolitischen Europäers des Fin de Siècle, und dieser kosmopolitische Geist durchdringt seine Vision einer zukünftigen jüdischen Heimat. In seinem Roman «Altneuland» schildert er eine neue jüdische Heimat, in welcher der Tempel wieder aufgebaut wird, die aber in ihrer ästhetischen Pracht einer Wiener Kathedrale ähnelt. In «Altneuland» gibt es eine Oper und ein Theater im europäischen Stil, aber in dem Roman beruht die Oper, die aufgeführt wird, auf dem Leben des falschen jüdischen Messias Schabbtai Zwi aus dem 17. Jahrhundert.
NL: Herzls Rezeption war, wie Sie schreiben, zu seinen Lebzeiten gemischt. Wer hatte etwas gegen ihn?
DP: Der Zionismus war eine Minderheitenbewegung. Zum Zeitpunkt von Herzls Tod hatten nur etwa 100 000 Juden – ein Prozent des Weltjudentums – eine formelle zionistische Zugehörigkeit. Die meisten orthodoxen Juden betrachteten den Zionismus als blasphemisch; viele säkulare Jüdinnen und Juden in Osteuropa und Nordamerika zogen revolutionäre sozialistische Bewegungen dem Zionismus vor; und Assimilationswillige empfanden den Zionismus bestenfalls als peinlich und schlimmstenfalls als Bedrohung ihrer zunehmend komfortablen Position in ihren Heimatländern.
NL: Heute befinden sich die jüdischen Gemeinden in einer ganz anderen Situation als zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ist es denkbar, dass eine einzelne Person in der Lage wäre, Jüdinnen und Juden von ultraorthodox bis egalitär zu vereinen, so wie Herzl seinerzeit die verschiedenen Gruppen zu vereinen versuchte?
DP: Es kommt auf den Zeitpunkt an. Damals sehnte sich eben eine kritische Masse von Jüdinnen und Juden nach einem Visionär wie Herzl, als er auf der Bildfläche erschien. Zwei Jahrzehnte später, zur Zeit des Ersten Weltkriegs, brauchten sie dann einen geschickten Diplomaten, der den Zionismus in die Nachkriegsordnung einzubringen vermochte – und Chaim Weizmann erlangte seinerseits Grösse. Weitere zwei Jahrzehnte später brauchte der Zionismus einen Anführer, der einen Staat und eine Armee aufbauen konnte, und Ben-Gurion erfüllte diese Aufgabe. Heute sind die Bedürfnisse und Wünsche der Zionisten in der ganzen Welt und der Israelis im jüdischen Staat so unterschiedlich, so widersprüchlich, dass es schwer fällt, sich vorzustellen, dass eine einzige Person sie vereinen und erfüllen könnte.
NL: Professor Penslar, vielen Dank für das Gespräch!
verfasst am 09.08.2022
© Grafik: Elena Haschemi Schirazi
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