Gebetsschal auf Reisen
Fünf Fragen
an Rabbiner
Bea Wyler
Am 26. Juni 2022 eröffnet das Jüdische Museum Hohenems die Ausstellung «‹Ausgestopfte Juden?› Geschichte, Gegenwart und Zukunft jüdischer Museen». Darin ist ein Tallit (Gebetsschal) aus unserer Sammlung zu sehen. Der Schal ist eine Handarbeit von Rabbiner Bea Wyler, ab 1995 die erste Rabbinerin einer Nachkriegsgemeinde im deutschsprachigen Raum. Nun übergab Bea Wyler unserem Museum einen zweiten Tallit, der übergangsweise den Platz des ausgeliehenen Schals einnimmt. Bei der Übergabe sprach die Historikerin Barbara Häne mit Bea Wyler über das Judentum und das Handwerk.
BH: Bea Wyler, Sie haben zwei Tallitot für die Sammlung des Jüdischen Museums der Schweiz hergestellt, vielen Dank dafür. Wie haben Sie sich das Handwerk zur Herstellung eines Tallits angeeignet?
BW: Als ich für meine Ordinierung in New York am Jewish Theological Seminar lernte, setzte ich mich mit den halachischen Vorschriften auseinander, theoretisch einerseits, und praktisch andererseits. Ich suchte für meinen ersten eigenen Tallit nach Materialien, die mir besonders passten, und kam auf Seide. Ich stellte dann Tallitot her, verkaufte sie und finanzierte damit einen Teil meines Studiums. Das Handwerk – also das Nähen selbst – lernte ich bereits im Handarbeitsunterricht in meiner Schulzeit.
BH: Welche Arbeitsschritte braucht es für die Anfertigung eines Tallits?
BW: Vorerst braucht es ein Tuch mit vier Ecken, die Mindestgrösse ist vorgeschrieben. Die Streifen werden mit dem Pinsel aufgetragen. Die Zitzijot (Schaufäden) habe ich selbst aus Seidengarn geknüpft. Ich habe noch ungefähr 20 Kilometer koscheres Seidengarn zuhause, denn ich musste das Garn speziell anfertigen lassen, von einer Spinnerei, die normalerweise grosse Firmen beliefert. Für die Firma handelte es sich dabei nur um eine «Labormenge». Die Löcher zum Anbringen der Zitzijot werden mit einer Teppichnadel gestochen.
BH: Und wie lange brauchen Sie für die Herstellung eines Tallits?
BW: Das lässt sich nicht pauschal sagen, da während der Herstellung immer wieder Pausen gemacht werden müssen, zum Beispiel um die Farbe trocknen zu lassen. Mit dem Waschen, Bügeln, Ausmessen, dem Nähen der Säume und dem Knüpfen der Zitzijot brauche ich mit Wartezeiten ungefähr drei Tage dafür. Heute fertige ich nur noch Tallitot auf Anfrage an.
BH: In traditionellen Kreisen ist das Tragen eines Tallits Männern vorbehalten. Wie wurde Ihr Umgang mit Tallitot in den jüdischen Kreisen, in denen Sie sich bewegten, aufgenommen?
BW: In New York liessen sich viele Gemeindemitglieder einen farbigen Tallit von mir anfertigen, nachdem sie meinen Tallit bemerkt hatten. Als in meinem Minjan mehrere ‹meiner› Tallitot auftauchten, hat ein Aussenstehender gefragt: «Is this a special cult?» [lacht]. Auch in orthodoxen Kreisen gibt es heute Frauen, die mit Tallit beten. Meine Eltern trugen beide einen Tallit von mir.
BH: Würden Sie sagen, dass Sie Ihr Jüdisch-Sein zum Teil durch das Handwerk erleben? Für Sie spielt ja auch das Kochen eine grosse Rolle.
BW: Das stimmt, ich koche gerne, insbesondere für die Feiertage bereite ich Speisen zu, oft in grossen Mengen! Zum diesjährigen Schawuot habe ich mir etwas Spezielles ausgedacht: Cholera. Ja, das heisst so! Es ist ein überbackener Kuchen mit Lauch, Kartoffeln, Äpfeln und viel Käse natürlich – eine Walliser Spezialität, aber durchaus tauglich für Schawuot.
BH: Das klingt köstlich. Rabbiner Wyler, vielen Dank!
verfasst am 27.06.2022
© Photos: Elwira Spychalska
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