«Eine Kuratorin sollte sowohl intro- als auch extrovertiert sein»

Wir stellen vor: Christina Meri

Chris­ti­na Meri ist noch-Samm­lungs­lei­te­rin des Jüdi­schen Muse­ums Grie­chen­lands in Athen und ab Juli 2022 die neue Dr. Katia Guth-Drey­fus-Kura­to­rin des Jüdi­schen Muse­ums der Schweiz. Chris­ti­na Meri wird an der Erschlies­sung und am Erhalt der Bas­ler Samm­lung arbei­ten. Ihre Stel­le ist ein Legat der Grün­dungs­di­rek­to­rin Dr. Katia Guth-Drey­fus. Im Gespräch mit Nao­mi Lubrich spricht sie über sephar­di­sches und asch­ke­na­si­sches Juden­tum und dar­über, wel­che Fähig­kei­ten man braucht, um eine gute Kura­to­rin zu sein.

NL: Lie­be Chris­ti­na, Du warst knapp zwan­zig Jah­re Kura­to­rin des Jüdi­schen Muse­ums Grie­chen­lands. Was muss man über grie­chi­sche Judai­ca wissen?

CM: In Grie­chen­land fin­det man haupt­säch­lich roma­nio­ti­sche und sephar­di­sche Judai­ca. Die roma­nio­ti­schen Gemein­den ent­wi­ckel­ten sich im byzan­ti­ni­schen Reich aus den jüdi­schen Gemein­den der hel­le­nis­ti­schen und früh­rö­mi­schen Zeit. Die Juden von Byzanz spra­chen Grie­chisch und einen ein­zig­ar­ti­gen Dia­lekt, Java­nisch. Bis zum 15. Jahr­hun­dert bil­de­ten sie die Mehr­heit der jüdi­schen Bevöl­ke­rung in Grie­chen­land. Nach der Ankunft der ladi­nospra­chi­gen Sephar­den, also die von der ibe­ri­schen Halb­in­sel am Ende des 15. Jahr­hun­derts aus­ge­wie­se­nen Juden, waren die Roma­nio­ten dann zah­len­mäs­sig in der Min­der­heit, wäh­rend die Sephar­den eine wich­ti­ge Rol­le im sozia­len und wirt­schaft­li­chen Leben der Städ­te über­nah­men. Sephar­di­sche Tra­di­tio­nen gewan­nen an Ein­fluss, was man an den Zere­mo­ni­al­ob­jek­ten erkennt. Es ent­stan­den auch ein­zig­ar­ti­ge Judai­ca-Misch­for­men. Auf­grund der jahr­hun­der­te­lan­gen osma­ni­schen Herr­schaft, die bis ins 20. Jahr­hun­dert reich­te, fin­den sich vor allem osma­ni­sche For­men und Moti­ve an den jüdisch-grie­chi­schen Zeremonialobjekten.

NL: Gibt es loka­le Eigen­tüm­lich­kei­ten, also Tra­di­tio­nen, die es sonst nir­gends gibt?

CM: Ja! Jüdin­nen und Juden in den roma­nio­ti­schen Gemein­den vor allem im Wes­ten Grie­chen­lands ent­wi­ckel­ten Objek­te, die man sonst wenig kennt, allen vor­an Schad­day­ot und Ale­fi­ot. Schad­day­ot sind ver­zier­te sil­ber­ne Wid­mungs­ta­feln mit ein­gra­vier­ten hebräi­schen Inschrif­ten, die wäh­rend der Fei­er­tags­got­tes­diens­te im Andenken an leben­de oder ver­stor­be­ne Ange­hö­ri­ge in der Syn­ago­ge geweiht wur­den. Danach wur­den die Votif­ga­ben am Tora-Vor­hang befes­tigt oder in Grup­pen an Tex­til­gür­tel genäht, um zu beson­de­ren Anläs­sen über die Tik­kim, also die höl­zer­nen Tora-Behäl­ter, gehängt zu wer­den. Die­ser ein­zig­ar­ti­ge roma­nio­ti­sche Brauch ist seit dem frü­hen 17. Jahr­hun­dert belegt. Die Ale­fi­ot sind deko­ra­ti­ve, papier­ne Kind­bett­s­amu­let­te in Pos­ter­grös­se, die über dem Bett der Wöch­ne­rin und ihrem neu­ge­bo­re­nen Sohn befes­tigt wur­den. Auf die­sen Amu­let­ten wur­de auch der Name des Kinds­va­ters und das Geburts­da­tum des Soh­nes in die hebräi­sche Inschrift, bestehend aus Seg­nun­gen und Gebe­ten, ein­ge­schrie­ben. Der Name des Nach­kömm­lings wur­de nach der Beschnei­dung hin­zu­ge­fügt, so dass die Alef dem Jun­gen in sei­nem spä­te­ren Leben als Beschnei­dungs­zer­ti­fi­kat diente.

NL: In der West­schweiz ist das sephar­di­sche Juden­tum sehr prä­sent, in unse­rer Samm­lung jedoch noch unter­ver­tre­ten. Was für ein Objekt wür­dest Du uns wünschen?

CM: Ich wün­sche uns natür­lich eine reprä­sen­ta­ti­ve Samm­lung – und wer weiss? Viel­leicht gelingt uns das mit der Zeit. Mich per­sön­lich wür­de es inter­es­sie­ren, die Sephar­den, die sich am Anfang des 20. Jahr­hun­derts in die West­schweiz aus dem Bal­kan, aus Grie­chen­land und der Tür­kei ein­wan­der­ten, zu erfor­schen. Neben der Haupt­ge­mein­de in Lau­sanne gab es zum Bei­spiel seit etwa 1920 eine klei­ne­re sephar­di­sche Gemein­de, das «Min­jan Sephar­di», gegrün­det von David Abra­ham Ben­ja­min aus Salo­ni­ki. Mein Wunsch­ob­jekt? Ein Tora-Vor­hang aus der Gründungszeit.

NL: Wel­che asch­ke­na­si­schen Judai­ca fin­dest Du auf Anhieb interessant?

CM: Vie­le Jah­re habe ich mich vor­wie­gend mit Judai­ca aus grie­chisch-osma­ni­schen Stadt­ge­mein­den befasst. Im Gegen­satz dazu zie­hen mich die frü­hen Zere­mo­ni­al- und All­tags­ob­jek­te der Schwei­zer Land­ju­den an, wie zum Bei­spiel die Hals­ge­zei­ge und Syn­ago­gen­tex­ti­li­en, die aus den Stof­fen fest­li­cher Damen­klei­der gefer­tigt wur­den. Ich bin gespannt, die regio­nal unter­schied­li­chen Tra­di­tio­nen und Gepflo­gen­hei­ten, die die­se Objek­te wider­spie­geln, zu ent­de­cken – und zu vermitteln.

NL: Was für ein Typ eig­net sich als Kura­to­rin? Wel­che Cha­rak­ter­ei­gen­schaf­ten braucht man?

CM: Mei­ner Mei­nung nach soll­te eine Muse­ums­ku­ra­to­rin sowohl intro- als auch extro­ver­tiert sein. Intro­ver­tiert, damit sie genug Zeit und Geduld auf­wei­sen kann, ein Objekt auf sich wir­ken und zu sich spre­chen zu las­sen, um sei­ne ver­schie­de­nen und oft ver­steck­ten Facet­ten zu ent­de­cken. Dies schliesst auch die Lie­be zum Detail und zum Unschein­ba­ren ein – denn oft sind es die augen­fäl­lig unin­ter­es­san­ten Objek­te, die uns ihre ganz eige­ne Geschich­te erzäh­len. Da ich optisch-geprägt und kunst­af­fin bin, hal­fen mir die­se Eigen­schaf­ten, in die Welt der Judai­ca ein­zu­drin­gen. Eine Kura­to­rin soll­te aber auch extro­ver­tiert sein: Ein Muse­um ist von und für Men­schen gemacht. Sich ein­fühl­sam auf das Publi­kum, auf die Besu­cher oder die com­mu­ni­ty ein­zu­stel­len, kann ver­steck­te Geschich­ten sicht­bar machen.

NL: Vie­len Dank, Chris­ti­na, und will­kom­men in Basel. 

verfasst am 15.06.2022