Heilige Dinge
Über den Umgang mit religiösen Objekten im musealen Kontext
Das Museum Rietberg in Zürich zeigt in der Ausstellung «Im Namen des Bildes» Konzepte des Heiligen im Islam und im Christentum (Februar bis Mai 2022). Auch das Judentum kennt Konzepte des Heiligen, und diese spielen im Umgang mit Objekten eine Rolle. Die Kuratorin für indische Malerei im Museum Rietberg, Dr. Caroline Widmer, befragte Dr. Naomi Lubrich zum Umgang mit religiösen Objekten im Jüdischen Museum anlässlich der Podiumsdiskussion «Religiöse Objekte in Schule und Museum» des Museums Rietberg und der Pädagogischen Hochschule Zürich (am 6. Mai 2022 mit Prof. Dr. Eva Ebel, Unterstrass Zürich, Prof. Dr. Edith Franke, Universität Marburg sowie Moderatorin Léa Burger, SRF).
CW: Was gilt in der Sammlung des Jüdischen Museums als religiöses Objekt?
NL: Religiös ist vieles. Alles, was im Ritual zum Einsatz kommt, ist religiös: eine Kippa, eine Gewürzdose und sogar eine Kerze, je nach Kontext. Aber religiös ist nicht gleich heilig. Im Judentum sind vor allem die Objekte heilig, die den Namen Gottes enthalten, allen voran die Tora. In einem zweiten Schritt sind die Objekte heilig, die die Tora berührt haben, beispielsweise Mappot, das sind Tora-Wickelbänder, und Me’ilim, Tora-Mäntel.
CW: Gibt es Vorschriften im Umgang mit heiligen Objekten?
NL: Ja! Einige Beispiele: Die Schrift auf der Tora darf nicht mit blossen Händen berührt werden. Der Name Gottes soll ausserhalb des Gottesdienstes nicht ausgesprochen werden. Bücher mit dem Namen Gottes dürfen nicht entsorgt oder zerstört werden. Diese Vorgabe war übrigens für die jüdische Materialgeschichte von grossem Vorteil, denn ausgediente Objekte überlebten in sogenannten Genisot, das sind Lagerräume, manchmal Jahrhunderte. Heute sind sie Zeugnisse der jüdischen Geschichte. Wenn sie nicht gelagert werden, werden heilige Objekte bisweilen begraben – wie Menschen. Eine berühmte Bestattung von Tora-Rollen fotografierte Fred Stein 1952 in Paramus, New Jersey. Salo Baron und die Mitglieder der Synagogue Council of America haben Rollen im Beth El-Friedhof beigesetzt; sie waren in Tallitot, Gebetschals, eingewickelt.
CW: Nach welchen Kriterien würde eine Tora-Rolle ausgedient haben?
NL: Eine Tora-Rolle, die verblasst, eingerissen oder heruntergefallen ist, würde nicht mehr im Gottesdienst verwendet werden. Gleiches gilt für Tora-Rollen, in deren Text ein Fehler entdeckt wird. Die Tora-Rolle muss einwandfrei sein. Man sagt dazu «koscher». Wenn sie nicht mehr zu retten ist, wird sie begraben, doch in vielen Fällen können die Schäden behoben werden. Manche Tora-Schreiber machen es sich zum Ziel, «nicht-koschere» Tora-Rollen zu re-sakralisieren. Wer Risse flickt, Fehler behebt und verblasste Stellen neu beschriftet, kann sie für den Gottesdienst wieder gebrauchsfähig machen. Der Scrolls Memorial Trust in London beispielsweise restaurierte über 1500 Tora-Rollen aus Tschechien, die während der Schoa beschädigt wurden und nach der Instandsetzung an Gemeinden übergegeben wurden.
CW: Und Ihr im Jüdischen Museum? Was macht Ihr mit einer nicht-koscheren Tora-Rolle?
NL: Für uns ist es ganz unerheblich, ob unsere Objekte koscher sind oder nicht. Im Gegenteil, wir bewahren und erforschen mit besonderer Freude die alten Objekte, die eine lange und umwegige Geschichte haben. Eine Tora-Rolle in unserer Ausstellung stammt beispielsweise aus dem Kairo des vierzehnten Jahrhunderts. Sie wurde vermutlich von August Johann Buxtorf während seines Aufenthaltes in Marseille um 1720 erworben und nach seiner Rückkehr nach Basel an der Universität für das Studium der Hebraistik gebraucht. Dann wurde sie der Bibliothek geschenkt, in deren Besitz sie heute ist. Für uns ist die Tora-Rolle Zeugnis des Wissenstransfers zwischen Nordafrika, Südfrankreich und der Alten Eidgenossenschaft – und zwar zu einem Zeitpunkt, als Juden kein Recht hatten, sich in Basel niederzulassen. Dass das Leder an manchen Stellen nicht mehr frisch ist, tut ihrer Aura keinen Abbruch – ganz im Gegenteil.
CW: Und was macht Ihr, wenn Ihr ein heiliges Objekt entsorgt?
NL: Das ist bei uns noch nicht vorgekommen, zum Glück! Aber hypothetisch würden wir sicher zunächst das Objekt einer jüdischen Gemeinde anbieten, beziehungsweise mit einem Sofer die Möglichkeit zur Restaurierung besprechen. Denn dies ist meist günstiger, als eine Rolle neu schreiben zu lassen, was eine grosse Investition ist.
CW: Was unterscheidet Euren Umgang mit religiösen Objekten im Museum vom Umgang im Gottesdienst?
NL: Wir berühren unsere Tora-Rollen mit Handschuhen, damit das Pergament von Schweiss und Schmutz verschont bleibt. Während orthodoxe und gewisse konservative Gemeinden Frauen nicht erlauben, eine Tora-Rolle zu berühren, machen wir keinen Unterscheid zwischen den Geschlechtern – aber kräftig muss die Person sein, denn Tora-Rollen sind schwer!
CW: Vielen Dank für das Gespräch!
verfasst am 30.05.2022
© Elwira Spychalska
© Fred Stein, Bild in der Sammlung des American Jewish Historical Society, New York, USA.