Eine Taschenuhr in der Hand

Marva Gradwohl, eine Taschenuhr in der Hand

«Weder rastlose Arbeit noch unendliche Freizeit sind für die Lebensführung sinngebend.»

Florian Lippke
über Religion und Auszeit

Flo­ri­an Lipp­ke ent­wi­ckelt im Eid­ge­nös­si­schen Depar­te­ment des Innern (EDI/BAG) Ansät­ze für die gesund­heits­po­li­ti­sche Zukunft der Schweiz. Qua­li­täts­si­che­rung ist sein Metier. Sein Stu­di­um absol­vier­te er in Theo­lo­gie mit einer Pro­mo­ti­on zu den «Kla­ge­lie­dern Isra­els». Ver­bin­dun­gen zwi­schen Gesund­heit und Theo­lo­gie schlägt er zahl­rei­che, zuletzt zum The­ma «Aus­zeit». Muse­ums­lei­te­rin Nao­mi Lubrich sprach mit ihm über den reli­gi­ös-ver­ord­ne­ten Ruhe­tag, über das aus­ge­wo­ge­ne Leben und über den «Digi­tal Detox».

Nao­mi Lubrich: Lie­ber Flo­ri­an, Du hast Dich aus gesund­heits­po­li­ti­scher Sicht mit dem The­ma «Aus­zeit» beschäf­tigt. Was hat Dich dazu bewogen?

Flo­ri­an Lipp­ke: Die Redak­ti­on des Jour­nals vsao, Ver­band Schwei­ze­ri­scher Assis­tenz- und Ober­ärz­tin­nen und ‑ärz­te, frag­te mich für einen Bei­trag zum The­ma «Fre­quenz in den Reli­gio­nen» an. Das Jour­nal berich­tet vor­wie­gend über medi­zi­ni­sche, gele­gent­lich aber auch über phi­lo­so­phi­sche Fra­gen. Das trifft einen Nerv bei mir. Ich moch­te schon immer The­men, bei denen man heu­ti­ge Dis­kus­sio­nen mit alten Reli­gi­ons­vor­stel­lun­gen zusam­men­füh­ren kann, etwa Vega­nis­mus, Sci­ence-Fic­tion und Welt­all, Deu­tun­gen der Schön­heit, Phi­lo­so­phie und Natur – oder auch über den Ursprung der Demo­kra­tie im Nahen Osten. Ich sag­te daher zu und setz­te mich mit den Zeit­ein­hei­ten im Juden­tum und im Chris­ten­tum aus­ein­an­der. Vor­stel­lun­gen von Aus­zei­ten sind dafür massgebend.

NL: Was war Dei­ne Erkenntnis? 

FL: (Fast) alle Reli­gio­nen haben einer­seits ein linea­res und ande­rer­seits ein zykli­sches Zeit­ver­ständ­nis. Fes­te, Fei­ern und Ruhe­zei­ten struk­tu­rie­ren unse­ren All­tag, geben dem unab­läs­si­gen Fluss der Zeit einen Rhyth­mus. Die Woche defi­niert Arbeits­ein­hei­ten. Ruhe­ta­ge sind deren Gegen­ge­wicht. Mei­ne per­sön­lich wich­tigs­te Erkennt­nis ist, dass für die Lebens­füh­rung weder rast­lo­se Arbeit noch unend­li­che Frei­zeit sinn­ge­bend sind. Für ein erfül­len­des Leben bedin­gen sich Arbeit und Ruhe gegenseitig.

NL: Was sagen Juden­tum und Chris­ten­tum über Auszeiten?

FL: Das Juden­tum und das Chris­ten­tum haben einen gros­sen Teil der Hei­li­gen Schrif­ten gemein­sam, näm­lich die Hebräi­sche Bibel bezie­hungs­wei­se das Alte Tes­ta­ment. In die­sen Tex­ten sind die Sie­ben-Tage-Woche und die Ein­hal­tung des Ruhe­tags wich­ti­ge Grund­la­gen. Sie stel­len eine gött­li­che Ord­nung dar. Arbeit und Ruhe­ta­ge aus­ein­an­der­zu­hal­ten, ist seit Jahr­tau­sen­den ein wich­ti­ger Bestand­teil des sozia­len Mit­ein­an­ders. Reli­gi­on hat schon immer dem gemein­schaft­li­chen Zusam­men­le­ben eine Form gege­ben. Neben den Zeit­vor­stel­lun­gen hat sie zu Gesund­heit, Musik, Kunst und Rechts­set­zung beigetragen.

NL: Wie sieht die Ein­hal­tung des Ruhe­tags in der heu­ti­gen Pra­xis aus? 

FL: Die Umset­zung der Ver- und Gebo­te des Ruhe­tags fällt sehr unter­schied­lich aus, je nach­dem, ob man dem Ortho­do­xen, Kon­ser­va­ti­ven oder Libe­ra­len Juden­tum ange­hört. Ein ver­gleichs­wei­se jun­ges Phä­no­men für Ortho­do­xe ist das «Koscher-Pho­ne», das die Kom­mu­ni­ka­ti­on am Schab­bat durch tech­ni­sche Lösun­gen ein­schränkt. Das ist wie ein ver­pflich­ten­des, auto­ma­ti­sier­tes «Digi­tal Detox». Grund­sätz­lich ver­dankt das Juden­tum sei­ne Lang­le­big­keit der Diver­si­tät und der Anpas­sungs­fä­hig­keit für unter­schied­li­che Lebens­ent­wür­fe. Durch eine klu­ge Ver­hält­nis­be­stim­mung konn­te das Juden­tum Juden­tum blei­ben, ohne sich dem Lauf der Zeit zu verschliessen.

NL: Lie­ber Flo­ri­an, man sagt auch: «Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit». Vie­len Dank für Dei­ne Einblicke!

verfasst am 18.09.2023