«Wimpel sind gut geeignet, um Geschichten zu erzählen.»
Sieben Fragen an Dinah Ehrenfreund
Das Jüdische Museum der Schweiz bewahrt Hunderte Wimpel aus dem 17. bis zum 20. Jahrhundert. Im neuen Buch «Geburtskultur. Jüdische Zeugnisse aus der ländlichen Schweiz und dem Umland» erzählt die Kuratorin Dinah Ehrenfreund über diesen Bestand – und darüber, was man anhand der Wickelbänder über den sich verändernden Kult erkennen kann.
Naomi Lubrich: Dinah, Du bist Expertin für Wimpel. Was sind das?
Dinah Ehrenfreund: Wimpel sind Wickelbänder, die die Tora-Rolle zusammenbinden und das Pergament schützen. Mit dem Wimpel befestigt kann die Tora-Rolle dann mit einem Mantel und Silberschmuck bekleidet werden. Wickelbänder sind in jüdischen Gotteshäusern weit verbreitet, aber nur ausgehend vom deutschsprachigen Aschkenas hat sich die besondere Tradition verbreitet, das Stoffband mit dem Namen eines Jungen, seinem Geburtstag und dem Segen aus der Beschneidungsliturgie zu beschriften: «So wie er in den Bund eingeführt wurde, so möge er auch zur Tora, in die Ehe und zu guten Taten geführt werden. Amen. Sela.» Die ältesten Wimpel stammen aus dem 16. Jahrhundert. Das Stoffband wird aus der Beschneidungswindel hergestellt. Das rechteckige Tuch wird in vier Streifen geschnitten, längs aneinandergenäht, beschriftet und bestickt oder bemalt – und nach einiger Zeit der Synagoge gespendet wird.
NL: Wer konnte es sich leisten, einen Wimpel zu spenden?
DE: Während nur einzelne wohlhabende Familien Tora-Vorhänge oder Silbergerätschaften spendeten, scheint es, dass ein Grossteil der Familien in den Schweizer Landgemeinden einen Wimpel nach der Geburt eines Sohnes beisteuern konnten. Im 19. Jahrhundert waren Wimpel kein teures Geschenk. Und sie waren eine Möglichkeit, eine Spende an die Gemeinde zu geben und so auch verewigt zu sein.
NL: Wer hat die Schweizer Wimpel erforscht, und was sind die Erkenntnisse?
DE: Florence Guggenheim-Grünberg (1898–1989) war nach 1945 die erste Forscherin, die systematisch einen synagogalen Wimpelbestand untersuchte. Sie war damals die anerkannte Expertin für jüdische Volkskunde in der Schweiz. Allerdings war ihr Blick auf jüdische Folklore aus heutiger Sicht nostalgisch. So schenkte sie der Wimpelherstellung in ihrer Gegenwart kaum Beachtung. Letzteres ergänzte aber später Peter Stein mit einer Studie zur Wimpelherstellung im 21. Jahrhundert, die zeigte, dass es eine lebendige Wimpelkultur gab und gibt.
NL: Wimpel sind Jungen und Männern vorbehalten – sind Frauen auch in den Wimpeln erkennbar?
DE: Nicht nur alle aktiven öffentlichen Handlungen im Gottesdienst sind im orthodoxen Judentum Männern vorbehalten, auch die Dokumente der Vormoderne erfassen namentlich fast ausschliesslich Männer als Familienvorsteher. Wimpel sind materielle Zeugen einer Männergesellschaft. Obwohl Frauen Kinder zur Welt brachten und an der Fertigung der Wimpel beteiligt waren, sind sie namentlich nicht erwähnt.
NL: Neben der Schrift sind häufig auch Illustrationen zu sehen. Welche sind das?
DE: Die Tora-Rolle ist das häufigste Motiv auf Wimpeln. Es verdeutlicht den Verwendungszweck, sowohl praktisch als auch ideell. Die Chuppa, der Hochzeitsbaldachin, ist ein ebenfalls häufig abgebildetes Symbol. Auf den Wimpeln des 18. Jahrhunderts sind Sternzeichen genannt und figürlich dargestellt. Ein weiteres Symbol zeigt eine schlangenförmige liegende Acht als Flechtwerkmotiv, das die Ewigkeit symbolisiert. Dies kommt im Elsass auf Wimpeln ebenso vor wie auf christlichen Taufwünschen und steht für die Hoffnung eines langen Lebens. Und Blumensträusse in allen Formen symbolisieren den Lebensbaum.
NL: Gibt es beim Bestand im Jüdischen Museum eine Schweizer Besonderheit?
DE: Es kommt auf das Jahrhundert an, gerade die Wimpel aus dem 17. Jahrhundert gleichen den Elsässischen und Deutschen sehr. Ein Gestaltungsmerkmal aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, das in mehreren Gemeinden und Sammlungen in der Schweiz zu finden ist, kann ich aber als Schweizer Besonderheit hervorheben: Dabei reihen sich die Buchstaben kunstvoll in einer gotischen und in einer semikursiven modernen Schrift abwechselnd aneinander. Bemerkenswerterweise kommt ab 1865 bei diesem «Schweizer Typus» eine ikonografische Besonderheit hinzu: Über dem hebräischen Geburtsdatum ist ein Schriftband gezeichnet, in dem Name, Geburtsdatum und Geburtsort, respektive der Heimatort, in lateinischen Buchstaben ergänzt sind. Zudem sind wir in der Schweiz in der glücklichen Situation, dass wir aufgrund zusätzlicher historischer Quellen in bestehenden Gemeinden und Archiven auch die meisten Personen identifizieren können.
NL: Die Wimpel-Anfertigung hatte einst einen höheren Stellenwert als heute.
DE: Ja, sowohl für die Individuen wie auch für die Gemeinde. Synagogenbestände der Tora-Wimpel umfassten idealerweise alle Männer einer Gemeinde über einen langen Zeitraum. Sie dokumentierten die Gemeinde, ihre Mitglieder, ihre Grösse und somit ihre Bedeutung. Vereinfacht gesagt: Je mehr Wimpel sie im Schrank aufbewahrte und je weiter diese zurückreichten, desto bedeutender war die Gemeinde. Die Tatsache, dass die Dokumentation der Geburt von anderer – staatlicher – Stelle übernommen wurde, hat bereits um 1900 zu einem Bedeutungsverlust des Brauchs geführt. Heute gibt es sowohl Familien, die den Brauch fortführen als auch solche, für die er geringen Stellenwert hat oder auch völlig unbekannt ist. Jedenfalls sind Wimpel gut geeignet, um interessante Geschichten zu erzählen!
NL: Vielen Dank für das Gespräch, liebe Dinah.
verfasst am 14.02.2023
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