«Superman ist eine Moses-Geschichte.»

Vier Fragen an Thomas Nehrlich

Tho­mas Nehr­lich ist Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler an der Uni­ver­si­tät Bern. Er erforscht Geschich­ten von Hel­din­nen und Hel­den aus der Ver­gan­gen­heit und der Gegen­wart. Dabei beleuch­tet er ihren Bezug zu gesell­schaft­li­chen Struk­tu­ren, zur Regie­rungs­form – und zum Juden­tum. Nao­mi Lubrich frag­te ihn zum Fas­zi­no­sum Hel­den­li­te­ra­tur, zu jüdi­schen Vor­bil­dern und zur aktu­el­len Berichterstattung.

Nao­mi Lubrich: Lie­ber Tho­mas, Du beschäf­tigst Dich mit Hel­den­fi­gu­ren. Was inter­es­siert Dich daran?

Tho­mas Nehr­lich: Mein Inter­es­se an Hel­den­tum hat zunächst ein­fach einen bio­gra­phi­schen und per­sön­li­chen Hin­ter­grund. Wie vie­le Men­schen bin ich mit den Geschich­ten von Hel­din­nen und Hel­den auf­ge­wach­sen, mit Jim Knopf und Ron­ja Räu­ber­toch­ter, mit grie­chi­schen Mythen und Aben­teu­er­ro­ma­nen, spä­ter auch mit heroi­schen Figu­ren aus Fan­ta­sy und Sci­ence Fic­tion und den Super­hel­den. Hero­is­mus ist ein häu­fi­ges Ele­ment sehr vie­ler lite­ra­ri­scher und popu­lär­kul­tu­rel­ler Wer­ke. Die­se Erzähl­tra­di­ti­on, viel­leicht die längs­te der Mensch­heits­ge­schich­te, beschäf­tigt mich als Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler. Sie ermög­licht uns einen Zugang zu ganz alten Über­lie­fe­run­gen, etwa dem rund 4000 Jah­re alten baby­lo­ni­schen Gil­ga­mesch-Epos, und zu Arte­fak­ten aus ande­ren Kul­tu­ren, etwa den japa­ni­schen Man­ga. Anhand der Dar­stel­lung von Hel­din­nen und Hel­den in der Lite­ra­tur und Kunst erfah­ren wir sehr viel über die Gesell­schaf­ten und Epo­chen, aus denen sie stammen.

NL: Das Juden­tum spielt in Dei­ner For­schung eine Rol­le. Was ist der Bezug?

TN: Die reli­giö­sen Erzäh­lun­gen des Juden­tums gehö­ren zu den bekann­tes­ten und wich­tigs­ten Hel­den­tra­di­tio­nen unse­rer Kul­tur. Josef, Moses, Josua, David, Judit, Ester – sie alle tra­gen heroi­sche Züge. Der Tanach, die hebräi­sche Bibel, ist ein Füll­horn des Hero­is­mus. Und die Gefah­ren und Schwie­rig­kei­ten, mit denen die­se alten Hel­den­fi­gu­ren kon­fron­tiert sind, las­sen sich mit der jün­ge­ren Ver­gan­gen­heit und zum Teil der Gegen­wart vie­ler Jüdin­nen und Juden in Bezie­hung set­zen: Ver­fol­gung, Dia­spo­ra, Dis­kri­mi­nie­rung, Gewalt. Beson­ders inter­es­siert mich die Rezep­ti­on und Adap­ti­on der jüdi­schen Figu­ren in den Geschich­ten der Super­hel­den. Der über­mensch­lich star­ke Krie­ger Sim­son etwa wird schon in der Bibel wie ein Super­held dar­ge­stellt, mit einer gehei­men Kraft­quel­le, die zugleich sei­ne Schwach­stel­le ist: sein Haar, das ihm Deli­la abschnei­det. Sim­son stand, zusam­men mit Hel­den wie Achil­les und Sieg­fried, die ähn­lich funk­tio­nie­ren, gera­de­zu Modell für die Superhelden.

NL: Super­man, der Gross­va­ter der Super­hel­den, wur­de von zwei US-ame­ri­ka­ni­schen Juden 1938 erfun­den. War das Zufall?

TN: Jer­ry Sie­gel und Joe Shus­ter waren Ende der 1930er Jah­re Teen­ager, als sie Super­man erfan­den. Sie waren Kin­der jüdi­scher Immi­gran­ten, die aus Euro­pa in die USA geflüch­tet waren. Die­se Her­kunft teil­ten sie mit vie­len der bedeu­tends­ten frü­hen Super­hel­den-Autoren und ‑Zeich­ner, etwa mit Will Eis­ner, Bill Fin­ger, Bob Kane, Jack Kir­by und Stan Lee, die Figu­ren wie Bat­man, Cap­tain Ame­ri­ca und Spi­der-Man erschu­fen. Sie alle hat­ten ent­fes­sel­ten Anti­se­mi­tis­mus selbst erlebt oder kann­ten ihn als Trau­ma ihrer Eltern. Auch in den USA leb­ten sie als Ein­wan­de­rer zunächst unter pre­kä­ren Bedin­gun­gen. Dass sich trau­ma­ti­sier­te, sozi­al aus­ge­grenz­te und öko­no­misch benach­tei­lig­te Jugend­li­che über­mäch­ti­ge Hel­den­fi­gu­ren aus­den­ken, in deren Aben­teu­ern sie ihre Träu­me ver­wirk­li­chen und für einen Moment der Rea­li­tät ent­flie­hen kön­nen, ist nicht ver­wun­der­lich. Dabei flos­sen in die neu­en Hel­den auch die alten jüdi­schen Erzähl­tra­di­tio­nen ein. Super­man selbst ist von Rab­bi­nern wie Sim­cha Wein­stein und Avichai Apel mit Moses ver­gli­chen wor­den: Bei­de Hel­den wer­den von ihren leib­li­chen Eltern zu ihrem Schutz aus­ge­setzt und von Zieh­el­tern auf­ge­zo­gen, bevor sie sich gegen Unter­drü­ckung und Unfrei­heit wen­den und zu ver­ehr­ten Beschüt­zern ihrer Lands­leu­te wer­den. Deut­lich wird das jüdi­sche Erbe der Super­hel­den auch in ihrer Poli­tik. Im Zwei­ten Welt­krieg erschie­nen Comics, in denen sie Adolf Hit­ler zur Stre­cke brin­gen und den Holo­caust zu been­den ver­su­chen. Spä­ter sen­si­bi­li­sier­ten die X‑Men die Mehr­heits­ge­sell­schaft für die Erfah­run­gen von Min­der­hei­ten und enga­gier­ten sich gegen Dis­kri­mi­nie­rung jeder Art. Auch wenn uns Super­hel­den heu­te in Form einer mil­li­ar­den­schwe­ren Indus­trie begeg­nen, die Comics, Fil­me und Mer­chan­di­sing am lau­fen­den Band pro­du­ziert, sind sie von ihren Ursprün­gen her jüdisch, anti­fa­schis­tisch und egalitär.

NL: Braucht unse­re Gesell­schaft heu­te noch Hel­den­ge­schich­ten, oder haben sie ausgedient?

TN: Das ist eine schwie­ri­ge Fra­ge, bei der ich selbst zwie­ge­spal­ten bin. Einer­seits kön­nen heroi­sche Figu­ren mora­li­sche und gesell­schaft­li­che Wer­te ver­mit­teln. Sie kön­nen Men­schen über kul­tu­rel­le Gren­zen hin­weg mit­ein­an­der ver­bin­den. Hel­den­ge­schich­ten sor­gen aus­ser­dem schlicht für gute Unter­hal­tung. Der jahr­tau­sen­de­lan­ge Erfolg des Hero­is­mus scheint mir zu bele­gen, dass er eng mit der mensch­li­chen Zivi­li­sa­ti­on ver­knüpft ist. Viel­leicht sind Erzäh­len, Kunst, Kul­tur und Fort­schritt ohne heroi­sche Vor­bil­der gar nicht denk­bar. Ande­rer­seits geht Hel­den­tum fast immer mit Kampf und Gewalt ein­her. Und in ihrer her­aus­ge­ho­be­nen Macht­stel­lung, in der sie allein ent­schei­den und eigen­mäch­tig han­deln, wir­ken Hel­den selbst­herr­lich und unde­mo­kra­tisch. Die­se Schat­ten­sei­ten des Hel­den­tums hal­ten heu­te vie­le aus guten Grün­den für obso­let. Die Poli­tik- und Kul­tur­wis­sen­schaf­ten bezeich­nen die­se Hal­tung, die sich seit Mit­te des 20. Jahr­hun­derts stark ver­brei­tet, als Post­he­ro­is­mus. Über­wun­den aber scheint mir Hel­den­tum defi­ni­tiv nicht. Das sieht man übri­gens an der west­li­chen Bericht­erstat­tung zum Angriff Russ­lands auf die Ukrai­ne, die den Hel­den­mut ukrai­ni­scher Sol­da­ten her­vor­hebt. In die­sem Krieg gegen ein auto­kra­ti­sches Regime schei­nen unse­re demo­kra­ti­schen Gesell­schaf­ten ihre alte Bewun­de­rung für Hel­den teil­wei­se wie­der­zu­ent­de­cken, selbst für gewalt­sa­me. Hel­den­ge­schich­ten ent­ste­hen vor allem, wo Schre­cken herrscht. Mir wäre es lie­ber, wenn sie nicht nötig wären.

NL: Lie­ber Tho­mas, vie­len Dank für die­se Zusam­men­fas­sung – und auch für die fol­gen­den Lesetipps: 

Jens Mein­ren­ken: Eine jüdi­sche Geschich­te der Super­hel­den-Comics. In: Hel­den, Freaks und Super­rab­bis. Die jüdische Far­be des Comics. Her­aus­ge­ge­ben von Mar­gret Kamp­mey­er-Käding und Cil­ly Kugel­mann. Ber­lin: Jüdisches Muse­um Ber­lin 2010, S. 26–38.

Rea­der Super­hel­den. Theo­rie – Geschich­te – Medi­en. Her­aus­ge­ge­ben von Lukas Etter, Tho­mas Nehr­lich und Joan­na Nowot­ny. Bie­le­feld: tran­script 2018.

verfasst am 23.02.2023