«Auffällig viele Karten enthalten Hilfsbitten von Juden aus dem Russischen Kaiserreich.»
Qeto Gotsiridze über den Basler Rabbiner Dr. Arthur Cohn
Qeto Gotsiridze ist Doktorandin für Judaistik in Heidelberg, ihr Forschungsgebiet ist die jiddische Literatur. Für das Jüdische Museum der Schweiz erschloss sie ein Konvolut von 401 Postkarten an den berühmten Basler Rabbiner Dr. Arthur Cohn (1862‒1926). Mit Museumsleiterin Dr. Naomi Lubrich entschlüsselt sie die politischen und innerjüdischen Spannungen, die sich an ihnen ablesen lassen.
NL: Liebe Qeto, aus welcher Zeit stammen die Postkarten, wer schrieb sie?
QG: Die meisten Karten sind aus den Jahren 1904 bis 1916, der Grossteil ist aus den Schweizer Städten Lugano, Chur, Basel, Lausanne, St. Moritz, Aargau, Biel, Scuol, Vevey, Davos und Leysin. Sie sind auf Deutsch, Französisch, Russisch, Jiddisch und Hebräisch geschrieben – oft gemischt, zum Beispiel auf Deutsch, aber mit hebräischen oder kyrillischen Begriffen.
NL: Wer schrieb sie?
QG: Die Verfasser sind Gemeindemitglieder, Rabbiner und andere Jüdinnen und Juden, die Cohn um Rat fragen. Auffällig viele Karten enthalten Hilfsbitten von Juden aus dem Russischen Kaiserreich. Sie waren vor den Pogromen in Osteuropa geflohen und befanden sich in der Schweiz in Not, ohne Geld und Familie. Eine Schreiberin bittet um Unterstützung bei einer Suche nach einem jüdischen Deserteur aus Russland, viele enthalten Bitten um Hilfe für bedürftige Studenten (1849.201/175/177/192). Die Dringlichkeit der Anfragen wird schon dadurch ersichtlich, dass sie per Expressversand ankamen. Cohn engagierte sich für die Hilfesuchenden, etwa nahm er am Comité du secours pour les Russes à Berne teil und fungierte als Kontaktperson.
NL: Mit welchen religiösen Fragen beschäftigte sich Cohn?
QG: Manche Absender haben spezifische Fragen zur Kaschrut und suchen nach koscheren Geschäften und Verpflegung; die Verlässlichkeit des Koscher-Angebots eines Zürcher Milch- und Käseladens ist mehrfach Thema. Viele fragen, wo sie koscheres Fleisch erhalten (vor dem Hintergrund des Schächtverbots).
NL: Lassen sich auch innerjüdische Spannungen erkennen?
QG: Die Postkarten zeigen, wie sich Vertreter der jüdischen Orthodoxie vernetzten und Reformbemühungen entgegensetzten. Cohn war mit Charles Nordmann, Tobias Lewenstein und Josef Messinger Anhänger der sich in dieser Zeit bildenden orthodoxen Bewegung Agudas Jisroel. Tobias Lewenstein fungierte von 1919 bis 1923 als deren Präsident. Lewenstein war Oberrabbiner in den Niederlanden, in Dänemark und in der Schweiz. 1912 wurde er Oberrabbiner der Israelitischen Religionsgesellschaft (IRG) in Zürich nach ihrer Abspaltung 1898 von der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich (ICZ).
NL: Cohn war 1897 Zuschauer des Ersten Zionistenkongresses, danach wuchs seine Skepsis bis zur Ablehnung des Zionismus in den 1910er Jahren. Was erkennt man in den Postkarten?
QG: Die Orthodoxen wandten sich von den Zionisten ab. Erstere wollten die Torah sowie die traditionellen religiösen Werte wahren, während sich die Zionisten säkularisierten. Rabbiner Botschko in Montreux sah in den Zionistenkongressen eine Konkurrenz und rief die Aguda auf, ebenfalls eine Weltkonferenz einzuberufen. Cohn hingegen scheint, so lassen es zumindest die Postkarten vermuten, kein Hardliner gewesen zu sein, beispielsweise unterhielt er Verbindungen zu Organisationen wie dem Schweizerischen Komitee für Erez Jisroël. Neben der Orthodoxie galt Cohns Interesse der Bildung. Er rief Orts- und Jugendgruppen ins Leben und pflegte Kontakte zu Lehrern(1849.32/330). Er förderte den Lebensunterhalt der Studenten (1849.256), finanzierte einem Studenten, der sein Zimmer nicht bezahlen konnte, die Miete (1849.265). Er war auch mit dem Zürcher Mathematiker Leon Pasternak (1849.212) in Kontakt.
NL: Liebe Qeto, vielen Dank für diesen Einblick!
verfasst am 10.03.2025