Portrait von Naomi Lubrich
Zeichnung eines jüdischen Arztes
Delacroix' Noces juives
Bild einer Frau mit Turban
Original-Textausschnitt
Modezeichnung aus dem Jahr 1803

Naomi Lubrich mit dem Bild von Alessandro Fabri, Iudaeus Medicus, 1803

Alessandro Fabri, Iudaeus Medicus, 1593, JMS 2032

Delacroix, Noces juives, 1841, Louvre

Fromental Halévy, La Juive, Recha (Madeleine Nottes), ca. 1850, JMS 2025

Journal des Dames (German translation), 1803

Juive, Journal des Dames, 1803

«Heute würde man vielleicht ‹woke› sagen»

Naomi Lubrich über historische Modebilder

Das Jüdi­sche Muse­um der Schweiz sam­melt Dru­cke aus Kos­tüm- und Trach­ten­bü­chern vom 16. bis zum 20. Jahr­hun­dert. Die Bücher bil­de­ten die Klei­dun­gen ver­schie­de­ner Kul­tur­grup­pen ab, dar­un­ter Jüdin­nen und Juden, von Tasch­kent bis Paris. Samm­lungs­ku­ra­to­rin Chris­ti­na Meri sprach mit Nao­mi Lubrich, Mode­his­to­ri­ke­rin und Muse­ums­di­rek­to­rin, über jüdi­sche Mode­er­schei­nun­gen, vom mit­tel­al­ter­li­chen Arzt über die ‹schö­ne Ori­en­ta­lin› bis zur Tuni­ka der Fran­zö­si­schen Revolution.

Chris­ti­na Meri: Was inter­es­siert Dich, Nao­mi, an alten Modebildern?

Nao­mi Lubrich: Mich fas­zi­niert, dass sie wenig bekannt sind, aber unheim­lich ein­fluss­reich waren. Weil Mode­bil­der nicht als gros­se Kunst gel­ten, lau­fen sie in der Kunst­ge­schich­te und in den Kul­tur­wis­sen­schaf­ten oft ‹unter dem Radar› – und so auch in der Juda­is­tik. Aber sie hat­ten eine gros­se ‹Reich­wei­te›. Zum leicht zugäng­li­chen The­ma der Klei­dung wur­den Bücher in hoher Auf­la­ge gedruckt, ähn­lich wie heu­ti­ge Mode­zeit­schrif­ten. So präg­ten sie das Bild der Kul­tu­ren, unter ihnen die jüdische.

CM: Sie sind also Zeug­nis ver­gan­ge­ner Zeiten?

NL: Es mag über­ra­schen, aber die alten Bil­der haben auch heu­te noch gros­sen Ein­fluss. Alte Trach­ten­bü­cher sind viel­ge­nutz­te Refe­renz­wer­ke für Gestal­te­rin­nen, die Kos­tü­me für Thea­ter und Kino ent­wer­fen. Wenn sie eine ver­gan­ge­ne Zeit wie­der­ge­ben wol­len, suchen die Desi­gner Vor­la­gen in alten Modebüchern.

CM: Für die Büh­ne und die Lein­wand blei­ben sie also bedeu­tend, war­um aber für ein Museum?

NL: In ers­ter Linie hel­fen sie uns bei der Erschlies­sung von Dar­stel­lun­gen, für die wir kei­ne ande­ren Anga­ben haben. Ein auf­fäl­li­ger Hut, ein Gür­tel, eine unge­wöhn­li­che Schuh­form gibt uns Anhalts­punk­te für die Ver­or­tung und die Datie­rung. Dar­über hin­aus bie­ten sie Mate­ri­al für The­men, die sonst schwer abzu­bil­den wären. So haben wir bei­spiels­wei­se einen Druck aus Padua aus dem Jahr 1593, der aus Ales­san­dro Fabris Kos­tüm­kun­de «Diver­sar­um nati­o­num orna­tus et habi­tus» stammt. Dar­auf zu sehen ist ein jüdi­scher Arzt aus Kon­stan­ti­no­pel. Für uns ist das von beson­de­rem Inter­es­se, denn jüdi­sche Ärz­te aus dem Mit­tel­meer­raum ver­sorg­ten sei­ner­zeit auch die Schweiz, bereits ab dem 14. Jahr­hun­dert. Es gibt zahl­rei­che Bele­ge zu jüdi­schen Medi­zi­nern: ein Arzt namens Jocet (Fri­bourg 1356), Hely­as Sab­ba­ti aus Bolo­gna (Basel 1410), David (Schaff­hau­sen 1535/1536) sowie Abra­ham und Samu­el (Luzern 1544/1554). Sie waren gefrag­te Arbeits­mi­gran­ten, die einen Son­der­sta­tus erhiel­ten, wäh­rend Juden hier­zu­lan­de nicht gedul­det wur­den. Von ihnen wis­sen wir wenig mehr als ihre Vor­na­men und Wir­kungs­or­te. Mit der Zeich­nung aber haben wir visu­el­les Mate­ri­al. An sol­chen Abbil­dun­gen sehen wir auch die Bekannt­heit des Typus «jüdi­scher Arzt» und die Vor­stel­lun­gen, die man sich von ihm mach­te. Dass die Ärz­te aller­dings genau die­se Klei­dung tru­gen, ist fraglich.

CM: Vor wel­che wei­te­ren Fra­gen stel­len uns die Modebilder?

NL: Sie stel­len vie­le Fra­gen zur jüdi­schen Klei­dung. Neh­men wir zum Bei­spiel die Kopf­be­de­ckung. Sie ist ein ver­gleich­bar jun­ges Phä­no­men. In der Römer­zeit tru­gen Juden kei­ne Kopf­be­de­ckung – und auch sonst kei­ne eigen­tüm­li­chen Klei­dungs­stü­cke. Dar­über sind sich die Alter­tums­for­scher einig, denn die römi­schen His­to­ri­ker haben Jüdin­nen und Juden ein­ge­hend beob­ach­tet – und sich oft über sie lus­tig gemacht; aber sie haben nichts zu ihrem Erschei­nungs­bild fest­ge­hal­ten. Erst seit dem Mit­tel­al­ter bede­cken jüdi­sche Män­ner beim Gebet ihren Kopf. Sie tru­gen dafür Hüte – bis ins 20. Jahr­hun­dert. In den Syn­ago­gen-Gemäl­den von Otto Wyler (St. Gal­len 1912) und Wal­ter Hay­mann (Zürich 1960) tra­gen alle Män­ner Zylin­der. Aber um 1960 kamen die Hüte aus der Mode. Den Anfang mach­te John F. Ken­ne­dy 1961, als er sei­nen Amts­eid bar­häup­tig ableg­te. Es muss zu die­ser Zeit gewe­sen sein, dass die Kip­pa als Kopf­be­de­ckung für den stän­di­gen Gebrauch, auch in Innen­räu­men, in Umlauf kam, denn Wer­be­bil­der der ortho­do­xen New Yor­ker Yes­hi­va Uni­ver­si­ty aus dem Jahr 1954 zei­gen Vor­stands­mit­glie­der bar­häup­tig. Das ist über­ra­schend spät. Die Vor­läu­fer der Kip­pa zu fin­den und ihre Ver­brei­tung nach­zu­voll­zie­hen, ist eine wich­ti­ge For­schungs­auf­ga­be. Denn so wird deut­lich, wie neu man­che Sym­bo­le und Prak­ti­ken sind, die vie­le mit einer Grup­pe oder einer Reli­gi­on iden­ti­fi­zie­ren, als wären sie immer schon da gewesen.

CM: Gibt es auch Frau­en­bil­der, die Du bemer­kens­wert findest? 

NL: Ja, natür­lich. Zum Bei­spiel die ‹Ori­en­ta­lin›, eine Sehn­suchts­fi­gur, die im 19. Jahr­hun­dert Kon­junk­tur hat­te. Das berühm­tes­te Bei­spiel ist die Tän­ze­rin in Delacroix’ Noce jui­ve dans le Maroc (1839). Bis ins 20. Jahr­hun­dert zir­ku­lier­ten Mode­bil­der – zunächst Gra­phi­ken und spä­ter Foto-Post­kar­ten – von Jüdin­nen mit dra­pier­ten, gold­be­häng­ten Gewän­dern, von Marok­ko bis in die heu­ti­ge Tür­kei. Der Typ war exo­tisch – und ero­tisch. Die Bil­der wur­den für das Thea­ter oder die Oper über­nom­men. Ich den­ke zum Bei­spiel an Auf­füh­run­gen der Jüdin von Fro­m­en­tal Halé­vy, ins­be­son­de­re Elea­zars Toch­ter, Recha. Von die­ser Oper haben wir einen Druck der Wie­ner Sopra­nis­tin Made­lei­ne Not­tes, als Recha ‹ori­en­ta­li­siert›, um 1850. Das Bild der schö­nen Exo­tin inspi­rier­te damals auch Sym­pa­thie und Neu­gier für die jüdi­sche Welt.

CM: Das war also durch­aus poli­tisch. Gibt es ande­re Bei­spie­le einer poli­ti­schen Kleidung? 

NL: Ist Klei­dung nicht immer poli­tisch? Neh­men wir ein modi­sches Acces­soire der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on, eine als «jui­ve» oder «lévi­te» bezeich­ne­te Tuni­ka. Es gibt Bil­der der «jüdi­schen Tuni­ka» ab 1790. Was war jüdisch an ihr? Sie hat­te gemus­ter­te Säu­me, wie in bibli­schen Zei­ten, als der Saum eine Bot­schaft ver­mit­teln konn­te, wie eine Unter­schrift. In einer Abbil­dung im Jour­nal des Dames et des Modes von 1803 war die «jüdi­sche» Tuni­ka eine poli­ti­sche Aus­sa­ge. Denn im Zuge der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on erhiel­ten die Juden 1791 die fran­zö­si­sche Staats­bür­ger­schaft und damit die glei­chen Rech­te. 1806 erleb­ten sie die Ein­rich­tung einer Stell­ver­tre­tung, des San­he­drin, und 1807 die Aner­ken­nung des Juden­tums als offi­zi­el­le Reli­gi­on. Dass die Damen­zeit­schrift eine «jüdi­sche» Tuni­ka 1803 als modi­sches Acces­soire emp­fiehlt, lese ich als Bekun­dung der Soli­da­ri­tät mit den fran­zö­si­schen Jüdin­nen. Die Tuni­ka war fort­schritt­lich. Heu­te wür­de man viel­leicht sagen: «woke».

CM: Lie­be Nao­mi, vie­len Dank!

verfasst am 30.05.2023