«Heute würde man vielleicht ‹woke› sagen»
Naomi Lubrich über historische Modebilder
Das Jüdische Museum der Schweiz sammelt Drucke aus Kostüm- und Trachtenbüchern vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Die Bücher bildeten die Kleidungen verschiedener Kulturgruppen ab, darunter Jüdinnen und Juden, von Taschkent bis Paris. Sammlungskuratorin Christina Meri sprach mit Naomi Lubrich, Modehistorikerin und Museumsdirektorin, über jüdische Modeerscheinungen, vom mittelalterlichen Arzt über die ‹schöne Orientalin› bis zur Tunika der Französischen Revolution.
Christina Meri: Was interessiert Dich, Naomi, an alten Modebildern?
Naomi Lubrich: Mich fasziniert, dass sie wenig bekannt sind, aber unheimlich einflussreich waren. Weil Modebilder nicht als grosse Kunst gelten, laufen sie in der Kunstgeschichte und in den Kulturwissenschaften oft ‹unter dem Radar› – und so auch in der Judaistik. Aber sie hatten eine grosse ‹Reichweite›. Zum leicht zugänglichen Thema der Kleidung wurden Bücher in hoher Auflage gedruckt, ähnlich wie heutige Modezeitschriften. So prägten sie das Bild der Kulturen, unter ihnen die jüdische.
CM: Sie sind also Zeugnis vergangener Zeiten?
NL: Es mag überraschen, aber die alten Bilder haben auch heute noch grossen Einfluss. Alte Trachtenbücher sind vielgenutzte Referenzwerke für Gestalterinnen, die Kostüme für Theater und Kino entwerfen. Wenn sie eine vergangene Zeit wiedergeben wollen, suchen die Designer Vorlagen in alten Modebüchern.
CM: Für die Bühne und die Leinwand bleiben sie also bedeutend, warum aber für ein Museum?
NL: In erster Linie helfen sie uns bei der Erschliessung von Darstellungen, für die wir keine anderen Angaben haben. Ein auffälliger Hut, ein Gürtel, eine ungewöhnliche Schuhform gibt uns Anhaltspunkte für die Verortung und die Datierung. Darüber hinaus bieten sie Material für Themen, die sonst schwer abzubilden wären. So haben wir beispielsweise einen Druck aus Padua aus dem Jahr 1593, der aus Alessandro Fabris Kostümkunde «Diversarum nationum ornatus et habitus» stammt. Darauf zu sehen ist ein jüdischer Arzt aus Konstantinopel. Für uns ist das von besonderem Interesse, denn jüdische Ärzte aus dem Mittelmeerraum versorgten seinerzeit auch die Schweiz, bereits ab dem 14. Jahrhundert. Es gibt zahlreiche Belege zu jüdischen Medizinern: ein Arzt namens Jocet (Fribourg 1356), Helyas Sabbati aus Bologna (Basel 1410), David (Schaffhausen 1535/1536) sowie Abraham und Samuel (Luzern 1544/1554). Sie waren gefragte Arbeitsmigranten, die einen Sonderstatus erhielten, während Juden hierzulande nicht geduldet wurden. Von ihnen wissen wir wenig mehr als ihre Vornamen und Wirkungsorte. Mit der Zeichnung aber haben wir visuelles Material. An solchen Abbildungen sehen wir auch die Bekanntheit des Typus «jüdischer Arzt» und die Vorstellungen, die man sich von ihm machte. Dass die Ärzte allerdings genau diese Kleidung trugen, ist fraglich.
CM: Vor welche weiteren Fragen stellen uns die Modebilder?
NL: Sie stellen viele Fragen zur jüdischen Kleidung. Nehmen wir zum Beispiel die Kopfbedeckung. Sie ist ein vergleichbar junges Phänomen. In der Römerzeit trugen Juden keine Kopfbedeckung – und auch sonst keine eigentümlichen Kleidungsstücke. Darüber sind sich die Altertumsforscher einig, denn die römischen Historiker haben Jüdinnen und Juden eingehend beobachtet – und sich oft über sie lustig gemacht; aber sie haben nichts zu ihrem Erscheinungsbild festgehalten. Erst seit dem Mittelalter bedecken jüdische Männer beim Gebet ihren Kopf. Sie trugen dafür Hüte – bis ins 20. Jahrhundert. In den Synagogen-Gemälden von Otto Wyler (St. Gallen 1912) und Walter Haymann (Zürich 1960) tragen alle Männer Zylinder. Aber um 1960 kamen die Hüte aus der Mode. Den Anfang machte John F. Kennedy 1961, als er seinen Amtseid barhäuptig ablegte. Es muss zu dieser Zeit gewesen sein, dass die Kippa als Kopfbedeckung für den ständigen Gebrauch, auch in Innenräumen, in Umlauf kam, denn Werbebilder der orthodoxen New Yorker Yeshiva University aus dem Jahr 1954 zeigen Vorstandsmitglieder barhäuptig. Das ist überraschend spät. Die Vorläufer der Kippa zu finden und ihre Verbreitung nachzuvollziehen, ist eine wichtige Forschungsaufgabe. Denn so wird deutlich, wie neu manche Symbole und Praktiken sind, die viele mit einer Gruppe oder einer Religion identifizieren, als wären sie immer schon da gewesen.
CM: Gibt es auch Frauenbilder, die Du bemerkenswert findest?
NL: Ja, natürlich. Zum Beispiel die ‹Orientalin›, eine Sehnsuchtsfigur, die im 19. Jahrhundert Konjunktur hatte. Das berühmteste Beispiel ist die Tänzerin in Delacroix’ Noce juive dans le Maroc (1839). Bis ins 20. Jahrhundert zirkulierten Modebilder – zunächst Graphiken und später Foto-Postkarten – von Jüdinnen mit drapierten, goldbehängten Gewändern, von Marokko bis in die heutige Türkei. Der Typ war exotisch – und erotisch. Die Bilder wurden für das Theater oder die Oper übernommen. Ich denke zum Beispiel an Aufführungen der Jüdin von Fromental Halévy, insbesondere Eleazars Tochter, Recha. Von dieser Oper haben wir einen Druck der Wiener Sopranistin Madeleine Nottes, als Recha ‹orientalisiert›, um 1850. Das Bild der schönen Exotin inspirierte damals auch Sympathie und Neugier für die jüdische Welt.
CM: Das war also durchaus politisch. Gibt es andere Beispiele einer politischen Kleidung?
NL: Ist Kleidung nicht immer politisch? Nehmen wir ein modisches Accessoire der Französischen Revolution, eine als «juive» oder «lévite» bezeichnete Tunika. Es gibt Bilder der «jüdischen Tunika» ab 1790. Was war jüdisch an ihr? Sie hatte gemusterte Säume, wie in biblischen Zeiten, als der Saum eine Botschaft vermitteln konnte, wie eine Unterschrift. In einer Abbildung im Journal des Dames et des Modes von 1803 war die «jüdische» Tunika eine politische Aussage. Denn im Zuge der Französischen Revolution erhielten die Juden 1791 die französische Staatsbürgerschaft und damit die gleichen Rechte. 1806 erlebten sie die Einrichtung einer Stellvertretung, des Sanhedrin, und 1807 die Anerkennung des Judentums als offizielle Religion. Dass die Damenzeitschrift eine «jüdische» Tunika 1803 als modisches Accessoire empfiehlt, lese ich als Bekundung der Solidarität mit den französischen Jüdinnen. Die Tunika war fortschrittlich. Heute würde man vielleicht sagen: «woke».
CM: Liebe Naomi, vielen Dank!
verfasst am 30.05.2023
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