Fotocollage von Michele Klein
Portrait Solomon Schloss
Judaica-Ausstellung, 19. Jahrhundert
Jüdische Ritualgegenstände

Michele Klein, Collage von Marva Gradwohl

Solomon David Schloss. Aus dem Album seiner Enkeltochter Peggy Spielman. Adam Spielman collection, London.

Jüdische Ritualobjekte, Ausstellung an der Anglo-Historical Exhibition, London, 1887, darunter Schloss' Gewürzdose von Röttger Herfurth, c. 1750, Frankfurt. Catalogue of The Anglo-Jewish Historical Exhibition, 1888, Nr. 1677, Foto gegenüber S. 101.

Teile der silbernen Ritualgegenstände der Sammlung Solomon Schloss’ mit zwei Objekten, die heute dem Jüdischen Museum der Schweiz gehören: Das Tora-Schild zur rechten Seite des runden Tellers und die Gewürzdose darunter, Foto: Ralda Hammersley-Smith, 1931. Schloss collection.

«Die alte Welt erneuern – das ist der tiefste Trieb im Wunsch des Sammlers.»

Die Wissenschaftlerin
Michele Klein über frühe Judaica-Sammlungen

Judai­ca-Samm­lun­gen sind das Herz­stück der Jüdi­schen Muse­en. Aber wer hat wann und aus wel­chem Grund ange­fan­gen, Judai­ca zu sam­meln? Muse­ums­di­rek­to­rin Nao­mi Lubrich sprach dar­über mit der Wis­sen­schaft­le­rin Miche­le Klein, deren Vor­fah­re Solo­mon Schloss zu den frü­hen Judai­ca-Samm­lern gehör­te und den Markt für Judai­ca im spä­ten 19. und frü­hen 20. Jahr­hun­dert erforschte.

Nao­mi Lubrich: Lie­be Miche­le, Ihr Urur­gross­va­ter sam­mel­te jüdi­sche Zere­mo­ni­al­ge­gen­stän­de. Was moti­vier­te ihn dazu?

Miche­le Klein: Wal­ter Ben­ja­min, der deut­sche Phi­lo­soph und Bücher­samm­ler, schrieb 1931 über die Lei­den­schaft des Sam­melns: «Die alte Welt erneu­ern – das ist der tiefs­te Trieb im Wunsch des Samm­lers.» Der Ver­lust der alten Welt spiel­te ver­mut­lich eine wich­ti­ge Rol­le bei der Ent­ste­hung der Samm­lung mei­nes Vor­fah­ren Solo­mon David Schloss (1815–1911), der von 1887 bis etwa 1907 aktiv sam­mel­te. Beim Sam­meln erin­ner­te er sich mit Sicher­heit an die reli­giö­se Welt sei­ner Kind­heit in Frank­furt, eine Welt, die in der säku­la­ren Moder­ne am Ver­schwin­den war.

NL: Wer sam­mel­te noch Judai­ca, und wel­che Objek­te waren beson­ders wertvoll?

MK: Alex­an­der David (1687–1765), ein Braun­schwei­ger Hof­ju­de, soll der ers­te pri­va­te Samm­ler gewe­sen sein, der fei­ne Aus­stat­tungs­ge­gen­stän­de erwarb, um die Aus­übung sei­ner Reli­gi­on gemein­sam mit ande­ren Juden im Gebets­raum sei­nes Hau­ses zu verschönern.

Im frü­hen 19. Jahr­hun­dert bau­te der bri­ti­sche Finan­zier Levi Salo­mons (1774–1843) eine Samm­lung von etwa 400 hebräi­schen Büchern und einem Dut­zend oder mehr Tora- und Esther-Rol­len auf. Der in Bag­dad gebo­re­ne Ruben David Sas­so­on (1835–1905) erwarb Salo­mons Ritu­al­ge­gen­stän­de, die er den­je­ni­gen hin­zu­füg­te, die sei­ne Fami­lie aus dem Fer­nen Osten mit­ge­bracht hat­te. Die media­le Auf­merk­sam­keit, die Sas­so­ons Samm­lung bei den bei­den jüdi­schen his­to­ri­schen Aus­stel­lun­gen in Lon­don 1887 und 1906 zuteil­wur­de, schmei­chel­te ihm und mag den Stand der Fami­lie in der eng­li­schen jüdi­schen Eli­te gefes­tigt haben. In Wien sam­mel­te Baron Anselm Salo­mon Roth­schild (1803–1874) vor allem Metall­ar­bei­ten der nörd­li­chen Renais­sance. Das waren exklu­si­ve Stü­cke, die kai­ser­li­che Pracht und Macht darstellten.

Moritz Oppen­heim ver­mit­tel­te Baron Anselm den Ankauf meh­re­rer exqui­si­ter deut­scher, sil­ber­ver­gol­de­ter Steh­be­cher aus dem frü­hen 17. Jahr­hun­dert, die hebräi­sche Inschrif­ten tru­gen, aus denen her­vor­ging, dass sie jüdi­schen Begräb­nis­ge­sell­schaf­ten in Worms, Press­burg (Bra­tis­la­va) und Alt-Ofen (Óbu­da) im frü­hen 18. Jahr­hun­dert gehörten.

Anschlies­send stell­te Strauss sei­ne Samm­lung jüdi­scher Arte­fak­te auf der Ang­lo-Jewish His­to­ri­cal Exhi­bi­ti­on in Lon­don im Jahr 1887 aus. Er ent­fach­te damit eine Lei­den­schaft für das Sam­meln von Judai­ca, die die Grün­dung jüdi­scher Muse­en und das Stu­di­um der jüdi­schen Ritu­al­kunst inspirierte.

Isaac Strauss (1806–1888), ein Gei­ger, Diri­gent und Kom­po­nist, kon­zen­trier­te sich mehr auf den künst­le­ri­schen Inhalt der Aus­stel­lung und weni­ger auf die ritu­el­le Funk­ti­on der Objek­te. Er sag­te zu Recht vor­aus, dass das Sam­meln «ein frucht­ba­res Feld für die Beob­ach­tung und das Stu­di­um der his­to­ri­schen Ent­wick­lung der hebräi­schen Kunst der Ver­gan­gen­heit» bie­ten würde.

Zu den wei­te­ren Judai­ca-Samm­lern des spä­ten 19. Jahr­hun­derts gehört das Lon­do­ner Vic­to­ria and Albert Muse­um, das bis 1887 25 Gegen­stän­de, meist von Händ­lern, erwor­ben hat­te, dar­un­ter eine illus­trier­te Esther-Rol­le, Tora-Auf­sät­ze, eine Cha­nuk­ka-Lam­pe, 13 Ehe­rin­ge und einen Tora-Mantel.

Der pol­nisch-jüdi­sche Kauf­mann Les­ser Gieldzinski (1830–1910) war ein beses­se­ner Judai­ca-Samm­ler, der auch Gemäl­de, Kera­mi­ken, Uhren, Musik­in­stru­men­te, Spa­zier­stö­cke und vie­les mehr sam­mel­te. Auch der Izmi­rer Kunst­händ­ler Ephra­im Ben­gui­at (ca. 1852–1918) und sein Sohn Mor­de­cai waren vom Sam­mel­fie­ber gepackt und erwar­ben vor allem ita­lie­ni­sche und osma­ni­sche Judai­ca. Wie bei Schloss begann auch die Samm­lung der Ben­gui­ats mit jüdi­schen Arte­fak­ten aus Familienerbstücken.

Hein­rich Frau­ber­ger (1845–1920), ein katho­li­scher His­to­ri­ker und Kura­tor am Kunst­ge­wer­be­mu­se­um in Düs­sel­dorf, sam­mel­te Judai­ca mit dem Ziel, sie zu erforschen.

NL: Wie wur­den Judai­ca aus­ge­stellt, pri­vat und öffentlich?

MK: Jahr­hun­der­te­lang wur­den jüdi­sche Zere­mo­ni­al­ge­gen­stän­de in dem Raum aus­ge­stellt, in dem sie benutzt wur­den; die­je­ni­gen, die die Ritua­le zu Hau­se ver­schö­ner­ten, blie­ben im Haus, und die­je­ni­gen, die in der Syn­ago­ge ver­wen­det wur­den, blie­ben dort, viel­leicht in einem Schrank oder in einer Vitri­ne in einem Neben­raum, wenn sie nicht benutzt wurden.

Die Roth­schilds und Isaac Strauss prä­sen­tier­ten ihre Kunst in ihren Häu­sern, wo sie die High Socie­ty unterhielten.

Gieldzinski zeig­te sei­ne Samm­lung Besu­chern in sei­nem Haus in Dan­zig, bevor er sie in den Hoch­zeits­saal der Dan­zi­ger Gros­sen Syn­ago­ge brachte.

Jüdi­sche Ritu­al­kunst wur­de 1874 zum ers­ten Mal öffent­lich aus­ge­stellt, als Strauss sei­ne jüdi­schen ‹Kurio­si­tä­ten› im Pari­ser Palais Bour­bon anläss­lich einer Spen­den­ak­ti­on zum Schutz fran­zö­si­scher Bür­ger aus dem Elsass und Loth­rin­gen zeig­te. 1876 konn­ten die Besu­cher der monu­men­ta­len His­to­ri­schen Aus­stel­lung von Ams­ter­dam, mit der das 600-jäh­ri­ge Bestehen der Stadt gefei­ert wur­de, 57 jüdi­sche Zere­mo­ni­al­ob­jek­te der nie­der­län­di­schen jüdi­schen Gemein­de bewun­dern. Strauss stell­te sei­ne jüdi­sche Ritu­al­kunst 1878 im Palais du Tro­ca­dé­ro auf der Expo­si­ti­on Uni­ver­sel­le in Paris aus, und neun Jah­re spä­ter wur­de die Ang­lo-Jewish His­to­ri­cal Exhi­bi­ti­on in der Lon­do­ner Roy­al Albert Hall unter gros­sem Bei­fall der Öffent­lich­keit eröff­net. Die Judai­ca wur­den in Vitri­nen oder in einem abge­sperr­ten Raum aus­ge­stellt, wie es spä­ter in jüdi­schen und nicht­jü­di­schen Muse­en üblich war.

Ein Wen­de­punkt war, als nicht­jü­di­sche Muse­en began­nen, jüdi­sche Arte­fak­te aus­zu­stel­len. Ich weiss nicht, ob das Lon­do­ner Vic­to­ria and Albert Muse­um sei­ne 25 Judai­ca-Objek­te vor der Aus­stel­lung von 1887 der Öffent­lich­keit zugäng­lich mach­te. Nach dem Tod von Strauss kauf­te die Baro­nin Char­lot­te de Roth­schild sei­ne Samm­lung und schenk­te sie der Stadt Paris, wo sie 1891 im Musée de Clu­ny, einer Bil­dungs­ein­rich­tung, vor­ge­stellt wur­de. Ben­gui­ats Judai­ca, die mehr als 50 Gegen­stän­de für den Gebrauch in der Syn­ago­ge und im Haus­halt umfass­te, wur­de 1901 im [Smit­h­so­ni­an] United Sta­tes Natio­nal Muse­um in Washing­ton D.C. prä­sen­tiert, dann aber zurück­ge­nom­men, als das Muse­um sich wei­ger­te, sie anzu­kau­fen. 1902 bemerk­te Charles Her­cu­les Read, der die Aus­stel­lung der Samm­lung von Baron Fer­di­nand im Bri­tish Muse­um kura­tier­te, dass eine sol­che Samm­lung «die Mas­sen kul­ti­vie­ren und ver­fei­nern» wür­de. Die­ser sno­bis­ti­sche Anspruch war ein Ziel der Exhi­bi­ti­on of Jewish Art and Anti­qui­ties, die 1906 im Her­zen des über­füll­ten, armen Lon­do­ner Vier­tels Whitecha­pel statt­fand, in dem die meis­ten ost­eu­ro­päi­schen Ein­wan­de­rer wohnten.

Was Schloss angeht: Nur weni­ge hät­ten sei­ne Samm­lung gese­hen, hät­te er nicht sei­ne schöns­ten Stü­cke für die ang­lo-jüdi­schen Aus­stel­lun­gen von 1887 und 1906 zur Ver­fü­gung gestellt. Ein jun­ger Ver­wand­ter, der sich dar­an erin­ner­te, den zurück­ge­zo­gen leben­den Patri­ar­chen in sei­nem Haus besucht zu haben, bemerk­te, dass es mit Kunst voll­ge­stopft war; Maud Hall-Nea­le, die sein Por­trät mal­te, mal­te auch eine vik­to­ria­ni­sche Salon­sze­ne mit einer beträcht­li­chen Ansamm­lung von Kunst­ge­gen­stän­den um den Kamin, an den Wän­den, auf den Bei­stell­ti­schen und auf dem Kamin­sims. Auch wenn dies nicht Schloss’ Zuhau­se war, zeigt das Bild, mei­ner Ansicht nach, wie er ver­mut­lich sei­ne Samm­lung zum pri­va­ten Ver­gnü­gen arran­giert hatte.

NL: Miche­le, vie­len Dank für Ihren Ein­blick in die Anfän­ge des Judaica-Sammelns.

verfasst am 22.05.2024