«Die alte Welt erneuern – das ist der tiefste Trieb im Wunsch des Sammlers.»
Die Wissenschaftlerin
Michele Klein über frühe Judaica-Sammlungen
Judaica-Sammlungen sind das Herzstück der Jüdischen Museen. Aber wer hat wann und aus welchem Grund angefangen, Judaica zu sammeln? Museumsdirektorin Naomi Lubrich sprach darüber mit der Wissenschaftlerin Michele Klein, deren Vorfahre Solomon Schloss zu den frühen Judaica-Sammlern gehörte und den Markt für Judaica im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erforschte.
Naomi Lubrich: Liebe Michele, Ihr Ururgrossvater sammelte jüdische Zeremonialgegenstände. Was motivierte ihn dazu?
Michele Klein: Walter Benjamin, der deutsche Philosoph und Büchersammler, schrieb 1931 über die Leidenschaft des Sammelns: «Die alte Welt erneuern – das ist der tiefste Trieb im Wunsch des Sammlers.» Der Verlust der alten Welt spielte vermutlich eine wichtige Rolle bei der Entstehung der Sammlung meines Vorfahren Solomon David Schloss (1815–1911), der von 1887 bis etwa 1907 aktiv sammelte. Beim Sammeln erinnerte er sich mit Sicherheit an die religiöse Welt seiner Kindheit in Frankfurt, eine Welt, die in der säkularen Moderne am Verschwinden war.
NL: Wer sammelte noch Judaica, und welche Objekte waren besonders wertvoll?
MK: Alexander David (1687–1765), ein Braunschweiger Hofjude, soll der erste private Sammler gewesen sein, der feine Ausstattungsgegenstände erwarb, um die Ausübung seiner Religion gemeinsam mit anderen Juden im Gebetsraum seines Hauses zu verschönern.
Im frühen 19. Jahrhundert baute der britische Finanzier Levi Salomons (1774–1843) eine Sammlung von etwa 400 hebräischen Büchern und einem Dutzend oder mehr Tora- und Esther-Rollen auf. Der in Bagdad geborene Ruben David Sassoon (1835–1905) erwarb Salomons Ritualgegenstände, die er denjenigen hinzufügte, die seine Familie aus dem Fernen Osten mitgebracht hatte. Die mediale Aufmerksamkeit, die Sassoons Sammlung bei den beiden jüdischen historischen Ausstellungen in London 1887 und 1906 zuteilwurde, schmeichelte ihm und mag den Stand der Familie in der englischen jüdischen Elite gefestigt haben. In Wien sammelte Baron Anselm Salomon Rothschild (1803–1874) vor allem Metallarbeiten der nördlichen Renaissance. Das waren exklusive Stücke, die kaiserliche Pracht und Macht darstellten.
Moritz Oppenheim vermittelte Baron Anselm den Ankauf mehrerer exquisiter deutscher, silbervergoldeter Stehbecher aus dem frühen 17. Jahrhundert, die hebräische Inschriften trugen, aus denen hervorging, dass sie jüdischen Begräbnisgesellschaften in Worms, Pressburg (Bratislava) und Alt-Ofen (Óbuda) im frühen 18. Jahrhundert gehörten.
Anschliessend stellte Strauss seine Sammlung jüdischer Artefakte auf der Anglo-Jewish Historical Exhibition in London im Jahr 1887 aus. Er entfachte damit eine Leidenschaft für das Sammeln von Judaica, die die Gründung jüdischer Museen und das Studium der jüdischen Ritualkunst inspirierte.
Isaac Strauss (1806–1888), ein Geiger, Dirigent und Komponist, konzentrierte sich mehr auf den künstlerischen Inhalt der Ausstellung und weniger auf die rituelle Funktion der Objekte. Er sagte zu Recht voraus, dass das Sammeln «ein fruchtbares Feld für die Beobachtung und das Studium der historischen Entwicklung der hebräischen Kunst der Vergangenheit» bieten würde.
Zu den weiteren Judaica-Sammlern des späten 19. Jahrhunderts gehört das Londoner Victoria and Albert Museum, das bis 1887 25 Gegenstände, meist von Händlern, erworben hatte, darunter eine illustrierte Esther-Rolle, Tora-Aufsätze, eine Chanukka-Lampe, 13 Eheringe und einen Tora-Mantel.
Der polnisch-jüdische Kaufmann Lesser Gieldzinski (1830–1910) war ein besessener Judaica-Sammler, der auch Gemälde, Keramiken, Uhren, Musikinstrumente, Spazierstöcke und vieles mehr sammelte. Auch der Izmirer Kunsthändler Ephraim Benguiat (ca. 1852–1918) und sein Sohn Mordecai waren vom Sammelfieber gepackt und erwarben vor allem italienische und osmanische Judaica. Wie bei Schloss begann auch die Sammlung der Benguiats mit jüdischen Artefakten aus Familienerbstücken.
Heinrich Frauberger (1845–1920), ein katholischer Historiker und Kurator am Kunstgewerbemuseum in Düsseldorf, sammelte Judaica mit dem Ziel, sie zu erforschen.
NL: Wie wurden Judaica ausgestellt, privat und öffentlich?
MK: Jahrhundertelang wurden jüdische Zeremonialgegenstände in dem Raum ausgestellt, in dem sie benutzt wurden; diejenigen, die die Rituale zu Hause verschönerten, blieben im Haus, und diejenigen, die in der Synagoge verwendet wurden, blieben dort, vielleicht in einem Schrank oder in einer Vitrine in einem Nebenraum, wenn sie nicht benutzt wurden.
Die Rothschilds und Isaac Strauss präsentierten ihre Kunst in ihren Häusern, wo sie die High Society unterhielten.
Gieldzinski zeigte seine Sammlung Besuchern in seinem Haus in Danzig, bevor er sie in den Hochzeitssaal der Danziger Grossen Synagoge brachte.
Jüdische Ritualkunst wurde 1874 zum ersten Mal öffentlich ausgestellt, als Strauss seine jüdischen ‹Kuriositäten› im Pariser Palais Bourbon anlässlich einer Spendenaktion zum Schutz französischer Bürger aus dem Elsass und Lothringen zeigte. 1876 konnten die Besucher der monumentalen Historischen Ausstellung von Amsterdam, mit der das 600-jährige Bestehen der Stadt gefeiert wurde, 57 jüdische Zeremonialobjekte der niederländischen jüdischen Gemeinde bewundern. Strauss stellte seine jüdische Ritualkunst 1878 im Palais du Trocadéro auf der Exposition Universelle in Paris aus, und neun Jahre später wurde die Anglo-Jewish Historical Exhibition in der Londoner Royal Albert Hall unter grossem Beifall der Öffentlichkeit eröffnet. Die Judaica wurden in Vitrinen oder in einem abgesperrten Raum ausgestellt, wie es später in jüdischen und nichtjüdischen Museen üblich war.
Ein Wendepunkt war, als nichtjüdische Museen begannen, jüdische Artefakte auszustellen. Ich weiss nicht, ob das Londoner Victoria and Albert Museum seine 25 Judaica-Objekte vor der Ausstellung von 1887 der Öffentlichkeit zugänglich machte. Nach dem Tod von Strauss kaufte die Baronin Charlotte de Rothschild seine Sammlung und schenkte sie der Stadt Paris, wo sie 1891 im Musée de Cluny, einer Bildungseinrichtung, vorgestellt wurde. Benguiats Judaica, die mehr als 50 Gegenstände für den Gebrauch in der Synagoge und im Haushalt umfasste, wurde 1901 im [Smithsonian] United States National Museum in Washington D.C. präsentiert, dann aber zurückgenommen, als das Museum sich weigerte, sie anzukaufen. 1902 bemerkte Charles Hercules Read, der die Ausstellung der Sammlung von Baron Ferdinand im British Museum kuratierte, dass eine solche Sammlung «die Massen kultivieren und verfeinern» würde. Dieser snobistische Anspruch war ein Ziel der Exhibition of Jewish Art and Antiquities, die 1906 im Herzen des überfüllten, armen Londoner Viertels Whitechapel stattfand, in dem die meisten osteuropäischen Einwanderer wohnten.
Was Schloss angeht: Nur wenige hätten seine Sammlung gesehen, hätte er nicht seine schönsten Stücke für die anglo-jüdischen Ausstellungen von 1887 und 1906 zur Verfügung gestellt. Ein junger Verwandter, der sich daran erinnerte, den zurückgezogen lebenden Patriarchen in seinem Haus besucht zu haben, bemerkte, dass es mit Kunst vollgestopft war; Maud Hall-Neale, die sein Porträt malte, malte auch eine viktorianische Salonszene mit einer beträchtlichen Ansammlung von Kunstgegenständen um den Kamin, an den Wänden, auf den Beistelltischen und auf dem Kaminsims. Auch wenn dies nicht Schloss’ Zuhause war, zeigt das Bild, meiner Ansicht nach, wie er vermutlich seine Sammlung zum privaten Vergnügen arrangiert hatte.
NL: Michele, vielen Dank für Ihren Einblick in die Anfänge des Judaica-Sammelns.
verfasst am 22.05.2024
Solomon David Schloss. From the album of his granddaughter Peggy Spielman. Adam Spielman collection, London.
Some Jewish ritual objects displayed at the Anglo-Historical Exhibition, London, 1887, including (above the yellow mark) Schloss's figure-stem Havdalah, made by Röttger Herfurth, c. 1750, Frankfurt. Catalogue of The Anglo-Jewish Historical Exhibition, Publications of the Exhibition Committee IV. London, Royal Albert Hall, de-luxe ed., 1888, no. 1677, photographic plate facing p. 101.
Part of Solomon Schloss’s collection of ritual Jewish silver, showing two objects now owned by the Jewish Museum of Switzerland: the Austro-Hungarian Torah shield to the right of the round Friday evening plate (center) and the three-tiered spice tower from Lemgo (North Rhine-Westphalia). Ralda Hammersley-Smith, 1931. Schloss collection.
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