Hirte mit Vieh in der Wüste

«Israel ist ein Zentrum für Laborfleisch.»

Fünf Fragen an
Efrat Gilad

Im letz­ten Jahr­zehnt ist Isra­el zum füh­ren­den Ent­wick­ler alter­na­ti­ver Fleisch­pro­duk­te gewor­den, von vega­nen und vege­ta­ri­schen Pro­duk­ten bis hin zu Labor­fleisch. Die His­to­ri­ke­rin Efrat Gilad (Uni­ver­si­tät Bern), Exper­tin für jüdi­sche Lebens­mit­tel, forscht der­zeit über die Geschich­te des Fleisch­kon­sums in Isra­el und Paläs­ti­na. Sie wird die Ergeb­nis­se ihrer Arbeit am 13. Dezem­ber 2022 an einer öffent­li­chen Ver­an­stal­tung der Uni­ver­si­tät Bern prä­sen­tie­ren. Nao­mi Lubrich hat sie zu israe­li­schen Essens­ge­wohn­hei­ten, Tier­ethik und zur Zukunft von Fleisch im 21. Jahr­hun­dert befragt.

Nao­mi Lubrich: Lie­be Efrat, Du bist eine Exper­tin für Fleisch­kon­sum. Isst du Fleisch?

Efrat Gilad: Ich ver­su­che, es zu ver­mei­den. Ab und zu esse ich immer noch Fleisch, ich habe mei­nen Kon­sum jedoch deut­lich redu­ziert. Ich habe zunächst ver­sucht, vegan zu leben. Ich bin jedoch geschei­tert, was mich sehr frus­triert hat. Dann habe ich eine Art Sys­te­ma­tik ent­wi­ckelt: Ich gehe Tier für Tier vor. Schwein mag ich nicht. Dar­auf zu ver­zich­ten ist daher kein Pro­blem. Auch Fisch und eine Anzahl ande­rer Tie­re esse ich nicht. Mit der Kuh ist es anders: Rind­fleisch war in mei­ner Kind­heit Teil eines gesel­li­gen Essens und eine Wohl­fühl­nah­rung. Es kos­tet mich daher Mühe, Rind nicht mehr zu kon­su­mie­ren. Was mir gehol­fen hat: Je mehr ich über Tie­re gelernt habe, des­to weni­ger möch­te ich sie essen. (Sie lacht). Auf Milch­pro­duk­te und Eier zu ver­zich­ten, fin­de ich beson­ders schwierig.

NL: Fleisch­al­ter­na­tiv­pro­duk­te boo­men in Isra­el. Wieso?

EG: In der Tat! Isra­el ist momen­tan ein Zen­trum für Labor­fleisch. Es gibt dafür meh­re­re Grün­de: Ers­tens ist Isra­el eine gute Umge­bung für Start-ups. Und vie­le Fir­men für Fleisch­al­ter­na­ti­ven sind jung oder noch in der Ent­wick­lung. Zwei­tens ist Isra­el ein Zen­trum für medi­zi­ni­sche Zell­tech­nik. Das ist die Bio­tech­nik, die für Labor­fleisch genutzt wird. Und drit­tens kon­su­miert und impor­tiert Isra­el gros­se Men­gen an Fleisch, viel mehr als es pro­du­ziert. Daher sind neue Fleisch­quel­len auch öko­no­misch betrach­tet inter­es­sant. Mei­ner Mei­nung nach gibt es auch kul­tu­rel­le Grün­de für Isra­els Vor­rei­ter­rol­le in der Ent­wick­lung von Labor­fleisch – dar­über wer­de ich im Vor­trag sprechen.

NL: Das über­rascht mich! Seit wann nimmt Fleisch einen so gros­sen Platz in der israe­li­schen Ernäh­rung ein?

EG: Es ist eine jün­ge­re Ent­wick­lung, seit den 1990er Jah­ren. Paläs­ti­na war noch nie ein gros­ser Fleisch­pro­du­zent, weder im Osma­ni­schen Reich noch wäh­rend der bri­ti­schen Man­dats­zeit. Das hat sich auch seit der Grün­dung des Staa­tes Isra­el nicht gross ver­än­dert – tat­säch­lich wur­de die Zeit bis in die frü­hen 1950er Jah­re als «austeri­ty peri­od» (deutsch: Zeit der Spar­sam­keit) bezeich­net; sie bleibt vor allem durch die Fleisch­knapp­heit in Erin­ne­rung. Der Wirt­schafts­auf­schwung der 1990er Jah­re und die Öff­nung des israe­li­schen Mark­tes für Fleisch­im­port ver­än­der­te die Ess­ge­wohn­hei­ten der Israe­lis. Heu­te ist das Land ein rie­si­ger Fleisch­kon­su­ment, pro Kopf der Viert­gröss­te der OECD-Län­dern. Beim Geflü­gel­kon­sum ist es sogar Num­mer eins.

NL: Woher bezieht Isra­el sein Fleisch?

EG: Die meis­ten Rin­der, die in Isra­el für Fleisch geschlach­tet wer­den, sind ein Neben­pro­dukt der flo­rie­ren­den Milch­wirt­schaft des Lan­des. Die wich­tigs­te Quel­le ist jedoch der Import. Jung­tie­re aus Aus­tra­li­en, Por­tu­gal und ande­ren Erzeu­ger­län­dern wer­den nach Isra­el ver­schifft, wo sie gemäs­tet und dann geschlach­tet wer­den. Isra­el impor­tiert auch viel gefro­re­nes, abge­pack­tes Fleisch.

NL: Wie ist alter­na­ti­ves Fleisch inner­halb der kosche­ren Land­schaft zu verorten?

EG: Das Urteil steht noch aus, aber gewis­se Rab­bi­ner sind zu einer über­ra­schen­den Ant­wort gekom­men. Sie schla­gen bei­spiels­wei­se vor, dass Labor­fleisch koscher sein kann, auch wenn es von einem nicht-kosche­ren Tier stammt! Sie zitie­ren das jüdi­sche Prin­zip des «new face» (panim cha­da­shot), wel­ches sich auf ein Mate­ri­al bezieht, das so dra­ma­tisch ver­än­dert wur­de, dass es sei­ne frü­he­re Iden­ti­tät ver­liert. Die­se Rab­bi­ner argu­men­tie­ren, dass Labor­fleisch als kom­plett neu­es Phä­no­men behan­delt wer­den und daher eine eige­ne Lebens­mit­tel­ka­te­go­rie dar­stel­len könn­te. Dadurch wird es nicht nur koscher, son­dern zum Bei­spiel auch par­ve, das heisst, kate­go­risch kein Fleisch. Das klingt nach einer radi­ka­len Inter­pre­ta­ti­on, und tat­säch­lich ist bereits die Dis­kus­si­on dar­über fas­zi­nie­rend. Sie wird unse­re Vor­stel­lung, was Fleisch ist, und was nicht, verändern.

NL: Das wäre eine inter­es­san­te Wen­dung! Dan­ke Efrat für die Ein­bli­cke in Dei­ne Forschung.

verfasst am 28.11.2022