«Israelis erkennen einander an ihren Sandalen.»

Vier Fragen an Tamar El’Or

In die­ser Woche jährt sich der Ers­te Zio­nis­ten­kon­gress in Basel von 1897 zum 125. Mal. Der Kon­gress lös­te eine poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Renais­sance aus und trug unter ande­rem zur Ver­brei­tung des David­sterns als säku­la­res jüdi­sches Sym­bol bei. Doch auch wenn der Magen David das berühm­tes­te Sym­bol des Zio­nis­mus war, gab es wei­te­re mate­ri­el­le und imma­te­ri­el­le Hin­ter­las­sen­schaf­ten, die aus dem Zio­nis­mus her­vor­gin­gen und heu­te die israe­li­sche Kul­tur inspi­rie­ren. Nao­mi Lubrich befrag­te Tamar El’Or (Hebräi­sche Uni­ver­si­tät Jeru­sa­lem) zu ihrer For­schung über San­da­len als Aus­druck eines unver­wech­sel­ba­ren israe­li­schen Selbstverständnisses.

Nao­mi Lubrich: Lie­be Tamar El’Or, in Ihrem Arti­kel «Die See­le der San­da­le»  schrei­ben Sie, dass eine San­da­le aus bibli­scher Zeit, die um 1960 in Isra­el ent­deckt wur­de, einen Stil präg­te, der zum Inbe­griff des israe­li­schen Geschmacks wur­de. Wor­auf bezie­hen Sie sich?

Tamar El’Or: Ich bezie­he mich auf eine San­da­le, die in der Höh­le der Brie­fe in Nachal Che­ver von Yiga­el Yadin gefun­den wur­de. Da sie neben einem Beu­tel mit per­sön­li­chen Doku­men­ten einer Frau namens Bab­a­tha gefun­den wur­de, wird ihr die San­da­le zuge­schrie­ben. Eine Abbil­dung fin­den Sie auf der Web­site der Israe­li­schen Altertumsbehörde.

Sie hat einen lan­gen, ver­ti­ka­len Leder­rie­men, der zwi­schen den Zehen ent­lang des Fus­ses ver­läuft, den Knö­chel umfasst und sich vor­ne wie­der schliesst. Die­se ver­ti­kal geform­ten San­da­len waren in der meso­po­ta­mi­schen Regi­on von Indi­en und Per­si­en bis hin­un­ter nach Ägyp­ten weit ver­brei­tet. Zusam­men mit der hori­zon­ta­len San­da­le (der bibli­schen San­da­le) stel­len sie zwei Grund­for­men dar, die als Model­le dien­ten für die soge­nann­te «loka­le israe­li­sche Sandale».

NL: Sie schrei­ben, dass eini­ge San­da­len sich am bibli­schen Schuh­werk ori­en­tie­ren, wäh­rend ande­re funk­tio­nal sind. San­da­len waren das bevor­zug­te Schuh­werk in Kib­bu­zim. Wel­che Form war typisch für Kib­buz­niks – und warum?

TE: San­da­len wur­den in den Kib­bu­zim von ein­hei­mi­schen Schuh­ma­chern her­ge­stellt, die über­wie­gend aus Mit­tel­eu­ro­pa stamm­ten. Sie waren mit dem meso­po­ta­mi­schen Stil weni­ger ver­traut und kre­ierten die hori­zon­ta­le San­da­le mit zwei Rie­men, die in Deutsch­land lus­ti­ger­wei­se als «Jesus-San­da­le» bekannt ist. Die­ser Stil fand Anhän­ger bei den Ein­hei­mi­schen, die wie Kib­buz­niks aus­se­hen woll­ten. Die «Jesus-San­da­le» wur­de in Tel Aviv in «bibli­sche San­da­le» umbenannt.

NL: 1944 eröff­ne­te ein gros­ser israe­li­scher San­da­len­her­stel­ler sein Unter­neh­men unter dem Namen «Nim­rod». Wer war Nim­rod, und wel­che Bedeu­tung hat­te der Name in den 1940er Jahren?

TE: In Gene­sis (10:8–13) ist Nim­rod ein Held und Jäger. Er ist die bibli­sche Ver­si­on einer mytho­lo­gi­schen Figur aus dem alten Meso­po­ta­mi­en und hat eine viel­fäl­ti­ge Geschich­te, die im zwei­ten Jahr­tau­send v.d.Z. beginnt. Die Bibel beschreibt ihn als hel­den­haf­ten Jäger und König, aber alte her­me­neu­ti­sche jüdi­sche Tex­te kri­ti­sie­ren sei­ne Gewalt­be­reit­schaft und sei­ne Wider­spens­tig­keit. Die Über­set­zung des Namens Nim­rod bedeu­tet «lass uns rebel­lie­ren». Ein Midrasch stellt ihn als Hei­den gegen­über Abra­ham dar (Beres­hit Raba; 38:13). Tra­di­tio­nel­le und ortho­do­xe Juden nann­ten und nen­nen ihre Söh­ne nicht Nim­rod, aber seit den 1940er Jah­ren wur­de die­ser Name zum belieb­ten Vor­na­men unter nicht-ortho­do­xen Israe­lis, die nach kanaa­ni­ti­schen Vor­bil­dern such­ten. Über Nim­rod lässt sich noch vie­les sagen! Der Künst­ler Y. Dan­zi­ger schuf eine Sta­tue von Nim­rod, die sehr ein­fluss­reich war, wie ich in mei­nem Arti­kel erkläre.

NL: Hat die San­da­le als Aus­druck der zio­nis­ti­schen Selbst­dar­stel­lung aus­ge­dient? Oder hat sie in Isra­el immer noch eine beson­de­re Bedeutung?

TE: Sie ist immer noch ein regio­na­les Klei­dungs­stück, des­sen Codes die Israe­lis sofort ver­ste­hen. Wenn sie ins Aus­land rei­sen, erken­nen die Israe­lis ein­an­der an ihren San­da­len. Das ursprüng­li­che Design wird immer noch her­ge­stellt, sowohl als «Ret­ro­look» als auch in neu­en Mate­ria­li­en und Far­ben. Schau­en Sie sich die­se hand­ge­fer­tig­ten Kib­buz-San­da­len an, oder die­se, die in Hebron von Paläs­ti­nen­sern maschi­nell her­ge­stellt wer­den. Als Bei­spiel einer moder­nen Vari­an­te sehen Sie sich die Schu­he von Shani Lax an. Für einen sport­li­chen Look: Source; für einen urba­nen Look: Naot.

NL: Tamar El’Or, vie­len Dank für die­sen Ein­blick! Ich wer­de genau hin­schau­en, wenn ich das nächs­te Mal einen Israe­li in San­da­len sehe.

 

verfasst am 29.08.2022