«Kaum jemand weiss von den Jüdinnen und Juden, die den Krieg auf Mauritius überlebt haben.»
Vier Fragen an Anthona Smith
September 1940: Ein Schiff mit 1800 jüdischen Passagieren verlässt das rumänische Tulcea in Richtung Haifa im britischen Mandatsgebiet Palästina. Die Jüdinnen und Juden aus Deutschland, Österreich und Osteuropa sind auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Niemand hat ein Visum oder eine andere Einreisegenehmigung. Bei ihrer Ankunft werden sie deshalb von britischen Beamten abgewiesen. Doch bevor ihr Schiff den Hafen verlassen kann, versenkt es die Hagana, die zionistische Untergrundbewegung, in der Hoffnung, die Deportation zu verhindern. Stattdessen bringen die Briten die Passagiere auf zwei neue Schiffe. Das Ziel: Mauritius, eine damals britische Insel im Indischen Ozean.
Spulen wir vor: 2015 wird in Beau Bassin das Jewish Detainees Museum eröffnet. Es erzählt die Geschichte von Flüchtlingen, die den Krieg auf Mauritius überlebt haben — darunter Anna Frank, die später mit ihrem Mann und Sohn Vincent Frank-Steiner in Basel sesshaft wurde. Naomi Lubrich, Direktorin des Jüdischen Museums der Schweiz, sprach mit der Museumsführerin Anthona Smith über ein wenig bekanntes Kapitel der Schoa.
Naomi Lubrich: Liebe Anthona, Sie sind in Beau Bassin aufgewachsen, nicht weit entfernt von einem Friedhof mit jüdischen Grabsteinen aus den 1940er Jahren. Was wussten Sie über deren Geschichte?
Anthona Smith: Als ich jung war, waren die Grabsteine eine Kuriosität, über die wir kaum etwas wussten. Ab und zu kamen Besuchende, meist Nachkommen, um die Gräber ihrer Eltern zu ehren. Auch heute noch ist die Geschichte der jüdischen Häftlinge, die die Schoa auf Mauritius überlebt haben, trotz zweier Bücher nur wenigen bekannt. 1998 schrieb Ronald Friedman Exil auf Mauritius 1940 bis 1945, 2000 Geneviève Pitot The Mauritian Shekel. Fünfzehn Jahre später, im Jahr 2015, wurde in der Kapelle neben dem Friedhof ein Museum eröffnet.
NL: Was geschah mit den Jüdinnen und Juden, als sie auf Mauritius landeten?
AS: Anfangs waren es 1800 Passagiere, später nur noch 1581. Viele starben auf dem Weg, andere, als die Hagana das Schiff bombardierte. Sie waren verzweifelt. Die britischen Behörden hatten sie fast zwei Wochen lang über ihr Ziel im Unklaren gelassen. Am 26. Dezember 1940 kamen sie an. Zunächst begrüsste die kreolische und indische Bevölkerung sie und versorgte sie mit Kleidung. Doch zwei Tage später zeigten ihnen die britischen Behörden ihr neues Zuhause: ein Gefängnis. Die Bewohner:innen befolgten die britische Aufforderung, sich fernzuhalten. Der rechtliche Status der Jüdinnen und Juden war unklar: Waren sie Gefangene? Internierte? Häftlinge? Auch die Dauer ihrer Internierung war unbekannt. Wann würden sie frei sein? Der Lagerkommandant war grausam und sein Personal streng. Das Gebäude war mit Stacheldraht umzäunt, und das Personal trennte Männer und Frauen in verschiedene Trakte und in getrennte Zellen, was für die Familien besonders hart war. Die Häftlinge mussten ohne oder nur mit geringer Entlohnung arbeiten und durften keine sozialen Kontakte pflegen. Die Jüdinnen und Juden legten mehrmals Einspruch ein, teilweise mit Erfolg: Achtzehn Monate später durften die Paare wieder zusammenkommen und ihre Familienzeit in provisorischen Zelten verbringen. Auch für Singles war die neue Regelung ein Segen. Grössere Gruppen durften Schabbat und andere Feste feiern, Erwachsene konnten die Kinder unterrichten und sich kulturell betätigen. Neue Liebespaare fanden sich und zwischen 1943 und 1945 erblickten sechzig Kinder das Licht der Welt. Am meisten wünschten sich die Gefangenen Nachrichten aus Europa und Palästina. Sie hörten Radiosendungen aus London und verbreiteten die wichtigsten Nachrichten auf maschinengeschriebenen Blättern, die sie Camp News nannten. Zu den Problemen, mit denen sie konfrontiert waren, gehörten neben der ständigen Sorge um Familie und Freunde in Europa auch Krankheiten wie Depressionen, Mangelernährung und eine Typhusepidemie, die viele das Leben kostete. Den Juden und Jüdinnen wurde auf dem St. Martins-Friedhof neben dem heutigen Museum ein Grundstück zur Verfügung gestellt, auf dem sie ihre Toten bestatten konnten. Im Februar 1945 erlaubten die Briten den Gefangenen auf Mauritius schliesslich die Einreise nach Palästina, und im August 1945 kamen sie, diesmal legal, in Haifa an.
NL: Wer hat sich in all den Jahren um den Friedhof gekümmert?
AS: Als die Häftlinge 1940 auf Mauritius ankamen, lebte nur ein einziger Jude auf der Insel. Isia Birger war in Litauen geboren und 1937 im Alter von 29 Jahren aus beruflichen Gründen nach Mauritius eingewandert. Während der Kriegsjahre spielte er eine unschätzbare Rolle als Verbindungsmann zwischen den Gefangenen, den Lagerbehörden und dem South African Jewish Board of Deputies, das beträchtliche Hilfe leistete. Nach dem Krieg blieb er auf Mauritius und kümmerte sich um den Friedhof. Als er 1989 starb, wurde er dort begraben.
NL: Gibt es heute noch eine jüdische Bevölkerung auf Mauritius?
AS: Wir haben eine kleine Synagoge in Curepipe und 200 bis 300 Gemeindemitglieder. Keines der Mitglieder ist ein Nachkomme der Inhaftierten; alle sind aus anderen Gründen hierher gekommen.
NL: Haben Sie in Mauritius Antisemitismus erlebt?
AS: Ja.
NL: Liebe Anthona, vielen Dank, dass Sie uns Ihre Geschichte erzählt haben.
verfasst am 20.11.2024
Naomi Lubrich
in Erinnerung an
Rosa Solomin
22. Oktober 2024
11:00 Uhr