Portrait von Carmen Simon

Carmen Simon im Depot

«Unsere Generation muss entsammeln.»

Fünf Fragen an
Carmen Simon

Car­men Simon lei­tet heu­te das Regio­nal­mu­se­um Chüech­li­hus in Lang­nau im Emmen­tal, ihre Muse­ums­kar­rie­re begann im Jüdi­schen Muse­um der Schweiz. Nao­mi Lubrich sprach mit ihr über ihre ers­te beruf­li­che Sta­ti­on, über Samm­lungs­stra­te­gien damals und heu­te und über ihr Pro­jekt «Ent­sam­meln», eine Deak­zes­si­on, deren trans­pa­ren­te, par­ti­zi­pa­ti­ve Umset­zung unter Muse­en als vor­bild­lich gilt.

Nao­mi Lubrich: Lie­be Car­men, Dei­ne ers­ten Muse­ums­er­fah­run­gen mach­test Du 2008 im Jüdi­schen Muse­um der Schweiz. Wie kam das?

Car­men Simon: Ich war 22 Jah­re alt, stu­dier­te Geschich­te und Reli­gi­ons­wis­sen­schaft und such­te ein Prak­ti­kum. Die dama­li­ge Muse­ums­lei­te­rin Katia Guth-Drey­fus, 82 Jah­re alt, such­te eine Ver­tre­te­rin für ihre schwan­ge­re Mit­ar­bei­te­rin. Das pass­te! Die Arbeit in Basel war krea­tiv und viel­sei­tig. Katia Guth-Drey­fus bezog mich in alle Arbei­ten ein, schick­te mich auf Wei­ter­bil­dun­gen in ganz Euro­pa und begeis­ter­te mich für die Kul­tur- und Museumswelt.

NL: Wel­che Objek­te hat das Muse­um damals gesammelt?

CS: In ers­ter Linie sam­mel­ten wir Judai­ca, sowohl Ritu­al­sil­ber wie auch ande­re Objek­te, die im reli­giö­sen Leben eine Rol­le spiel­ten, wobei für Katia Guth-Drey­fus die hand­werk­li­che Fer­tig­keit sowie die His­to­ri­zi­tät der Objek­te aus­schlag­ge­bend war. In zwei­ter Linie sam­mel­ten wir Erin­ne­rungs­kul­tur, dar­un­ter Doku­men­te der Ver­fol­gung. Zeit­ge­nös­si­sche Objek­te sam­mel­ten wir nicht. Wir such­ten nach der jüdi­schen Vergangenheit.

NL: Wie waren die Ver­fah­ren für Neuerwerbungen? 

CS: Ankäu­fe gin­gen über her­kömm­li­che Wege: Katia Guth-Drey­fus kon­sul­tier­te Anti­qua­re und las Auk­ti­ons­ka­ta­lo­ge. Käu­fe übers Inter­net tätig­ten wir nicht. Bei Schen­kun­gen waren wir restrik­tiv. Jede Neu­erwer­bung wur­de im Fach­aus­schuss bespro­chen und hin­sicht­lich ihrer Eig­nung für die Samm­lung begrün­det. Die­se Sorg­falt war nicht über­all üblich; ande­re Muse­en sam­mel­ten im grös­se­ren Stil, was eini­gen Muse­en heu­te zum Ver­häng­nis gewor­den ist. Im Rück­blick war die Stra­te­gie, jede Objekt­an­nah­me zu begrün­den und im erwei­ter­ten Kreis zu dis­ku­tie­ren, zwar auf­wän­dig, aber aus heu­ti­ger Per­spek­ti­ve ratsam.

NL: Erin­nerst Du Dich an Ange­bo­te, die abge­lehnt wurden?

CS: Natür­lich haben wir gele­gent­lich Ange­bo­te abge­lehnt. Wir nah­men unse­re Sorg­falts­pflicht aber sehr ernst und ver­such­ten in der Regel, die Objek­te, die wir nicht in die Samm­lung auf­nah­men, wei­ter­zu­ver­mit­teln oder anders ein­zu­set­zen: Bücher an Biblio­the­ken, einen zeit­ge­nös­si­schen Tora-Zei­ger als Vor­füh­r­ob­jekt in der Ver­mitt­lung. Kom­pli­zier­ter war es bei Objek­ten, die den Namen Got­tes ent­hiel­ten. Sie dür­fen nicht ent­sorgt wer­den, son­dern müs­sen gela­gert oder begra­ben wer­den. Die weni­gen Zurück­wei­sun­gen waren beson­ders schwie­rig. Jüdi­sche Objek­te sind anders mit Erin­ne­run­gen und Bedeu­tun­gen gela­den als bei­spiels­wei­se das ein­hun­derts­te Lei­nen­hemd im Regio­nal­mu­se­um Chüechlihus.

NL: Wie hat sich seit­her die Muse­ums­welt verändert?

CS: Das Sam­meln ist in vie­len Hin­sich­ten pro­fes­sio­nel­ler gewor­den. Eini­ge Bei­spie­le: Muse­en erstel­len heu­te Samm­lungs­kon­zep­te, damit die Annah­men insti­tu­tio­nel­le Wer­te, nicht per­sön­li­che Vor­lie­ben spie­geln. Die Digi­ta­li­sie­rung hat Ein­zug in die Muse­en gefun­den (wenn­gleich ver­gleichs­wei­se spät, Archi­ve waren schnel­ler). Man sam­melt das imma­te­ri­el­le Erbe, also Ton- und Bild­auf­nah­men, zum Bei­spiel oral histo­ry. Die­se stel­len uns vor neue Fra­gen, etwa: auf wel­chen Trä­gern man sie für die Zukunft spei­chert. Und man sam­melt zuneh­mend die Gegen­wart. Als ich in Basel war, gab es eine Situa­ti­on, die ich heu­te anders sehe: Wir fan­den anti­se­mi­ti­sche Zet­tel im Brief­kas­ten – und leg­ten sie zur Sei­te, ohne die­se als Neu­zu­gän­ge in Erwä­gung zu zie­hen. Heu­te wür­de ich sie in die Samm­lung aufnehmen.

NL: Du hast im Regio­nal­mu­se­um Chüech­li­hus zum Ent­sam­meln auf­ge­ru­fen. Weshalb? 

CS: Im Regio­nal­mu­se­um Chüech­li­hus waren die Depots über­la­den und unüber­sicht­lich: Vie­le Objek­te gab es in mehr­fa­cher Aus­füh­rung, ande­re Din­ge waren undo­ku­men­tiert, wei­te­re Sachen waren es nicht wert, gesam­melt zu wer­den. Aus­ser­dem ent­spra­chen die­se Räu­me auch nicht mehr den heu­ti­gen Anfor­de­run­gen an ein Muse­ums­de­pot. Eine Depot­zu­sam­men­le­gung und damit der Umzug der Objek­te in ein ein­zi­ges, den Objekt­be­dürf­nis­sen ent­spre­chen­des Muse­ums­de­pot war des­halb unum­gäng­lich. Dabei war klar, dass wir jedes Objekt aus der Samm­lung in die Hand neh­men wer­den. Und des­halb haben wir uns dafür ent­schie­den, im glei­chen Schritt zu prü­fen, ob und wel­che Objek­te aus der Samm­lung ent­las­sen wer­den kön­nen. Der Auf­wand einer Deak­zes­si­on ist gross – ins­be­son­de­re, wenn man sie trans­pa­rent und par­ti­zi­pa­tiv durch­führt, wie wir das tun. Es hat sich mei­nes Erach­tens aber bereits mit der ers­ten Durch­füh­rung gelohnt: Wir haben inter­es­san­te Gesprä­che über Samm­lungs­pro­zes­se geführt. Unter­schied­li­che Men­schen – auch ver­meint­lich Unbe­tei­lig­te – enga­gier­ten sich. Wir erhiel­ten Ein­sich­ten in «schlum­mern­de» Objek­te und krea­ti­ve Vor­schlä­ge für die neue Nut­zung aus­ran­gier­ter Objek­te. Es ist eine schö­ne Erfah­rung.– Gleich­wohl wür­de ich emp­feh­len: Vor­sicht bei Neu­zu­gän­gen! Objek­te weg­zu­ge­ben ist schluss­end­lich schwie­ri­ger, als Objek­te nicht anzunehmen.

NL: Lie­be Car­men, wir neh­men uns das zu Her­zen. Vie­len Dank für das Gespräch!

verfasst am 04.04.2023