Der Kongress, mit dem alles begann
Fünf Fragen an Alina Marincean
Im August 1897 fand in Basel der Erste Zionistenkongress unter der Leitung des Schriftstellers und Aktivisten Theodor Herzl statt, Visionär eines jüdischen Staates. Aber war Herzls Erster Zionistenkongress der allererste? Bei einem Abendessen anlässlich der Konferenz der Vereinigung Europäischer Jüdischer Museen (AEJM) in Frankfurt 2022 gab Alina Marincean, Kuratorin des Elie Wiesel Maramures Museums in Rumänien, Einblicke in einen fast vergessenen «vorzionistischen» Kongress, mit dem alles begann.
Naomi Lubrich: In diesem Jahr feiern wir den 125. Jahrestag des Ersten Zionistenkongresses 1897. Manche behaupten jedoch, dass Theodor Herzls Basler Kongress nicht der allererste war. Welche Konferenz fand vorher statt?
Alina Marincean: Am 30. und 31. Dezember 1881 hielten die Leiter der jüdischen Gemeinden in Rumänien einen Kongress ab, der heute als Zionistenkongress in Focșani oder Grosser Kongress in Focșani bekannt ist. In einer Zeit zunehmenden Antisemitismus in weiten Teilen Europas schlug der Kongress eine neue Lösung vor, nämlich die Auswanderung nach Palästina und die dortige Gründung von Agrarkolonien.
NL: Wer organisierte den Kongress? Und wer nahm daran teil?
AM: Am Kongress nahmen 56 Delegierte aus 29 Regionen teil, die 50 Organisationen und 70 000 zionistische Aktivisten vertraten, von denen viele Interesse an einer Auswanderung nach Palästina zeigten. Den Vorsitz führte Samuel Pineles, Sohn des Talmudisten Hers Mendel Pineles.
NL: Der Begriff «Grosser Kongress in Focșani» meidet das Wort Zionismus? Warum?
AM: Die Bezeichnung «zionistisch» für den Kongress ist umstritten. Obwohl die Veranstaltung in Focșani für die aufkeimende zionistische Bewegung von grundlegender Bedeutung war – sie betrachtete die Assimilationsversuche in einer zunehmend feindseligen europäischen Umgebung mit Skepsis und zementierte die Idee, nach Palästina zu ziehen und dort Agrargemeinschaften zu gründen –, ging sie nicht so weit, eine politische Lösung, d.h. die Errichtung eines Staates, zu fordern. Das war der Beitrag von Herzl sechzehn Jahre später. Aus diesem Grund ziehen es gewisse Historiker vor, den Kongress als «vor-zionistisch» zu bezeichnen.
NL: Bewegte der Kongress in Focșani die Menschen tatsächlich zur Auswanderung nach Palästina?
AM: Der Kongress war auf nationaler und internationaler Ebene ein Erfolg. Historiker schreiben ihm zu, dass er Diskussionen in ganz Europa und sofortige Massnahmen in Rumänien auslöste. Die Auswanderung begann im Jahr 1882. Ein Schiff namens «Tethis» fuhr mit 228 Juden, hauptsächlich aus Moinesti, nach Palästina. Sie wurden die ersten Siedler von zwei Gemeinden, die heute noch in Israel existieren: Rosh Pina und Zichron Yacov. Der Focșani-Kongress hatte ein klares Programm und eine realistische Umsetzung, trotz der geringen finanziellen Mittel und der schwierigen Reise, die zu bewältigen war. Die Vorzionisten waren arm, aber sie waren auch hoch motiviert. Sie inspirierten andere, es ihnen gleichzutun. Sie waren die ersten Pioniere des Staates Israel.
NL: Wenn wir heute auf den Grossen Kongress zurückblicken: Wer erinnert sich in Rumänien daran, und wer in Israel? Ist er zu Unrecht vergessen worden?
AM: Insgesamt ist das Interesse am rumänischen Judentum zu gering, wenn man bedenkt, wie gross die Gemeinde war, nach Russland und Polen immerhin die drittgrösste in Europa. Heute sind es vor allem die rumänischen jüdischen Gemeinden sowie Fachleute, die sich an den Grossen Kongress in Focșanierinnern und Veranstaltungen dazu organisieren. Im Ausland ist der Kongress noch weniger bekannt. Das wird ihm nicht gerecht, wenn man bedenkt, was für ein wichtiges Ereignis er war und wie stark er das Leben und die Seele der Juden in den osteuropäischen Gemeinden widerspiegelt, sowie ihre immensen Anstrengungen und ihre kreative Energie, ein neues, unabhängiges jüdisches Leben aufzubauen.
NL: Alina, lass uns das ändern, hier und jetzt: Vielen Dank für diese Erinnerung an den Focșani- Kongress auf dem Blog des Jüdischen Museums der Schweiz.
verfasst am 10.08.2022
Photos: JMS 1808, Panorama Foto Jerusalem, 1886.
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